Sonntag, 14. November 2021

Sehnsucht

Predigt zum vorletzten Gottesdienst des Kirchenjahres, 14.11.2021, über 2.Korinther 5,1-10



Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.

(Reiner Maria Rilke, Duineser Elegien, Die erste Elegie)


Liebe Schwestern und Brüder,

eine Sehnsucht spricht aus diesen Zeilen des Dichters Reiner Maria Rilke. Eine Sehnsucht, für die es keinen Namen gibt, weshalb Rilke sie einem Engel vergleicht. Einen Engel, den man ruft, der aber nicht kommt.

Sehnsucht ist uns nicht fremd. Wir kennen das Heimweh, das wir als Kinder empfunden haben: Die Sehnsucht nach dem Zuhause, die doch vor allem eine Sehnsucht nach der Geborgenheit und Vertrautheit der Familie war.

Wir wissen auch, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu vermissen, den man lieb hat: Die Sehnsucht nach der Liebsten, dem Liebsten, von dem man durch die Entfernung getrennt ist. Die Sehnsucht nach den Kindern, die ausgezogen sind, nach einer fernen Freundin, einem fernen Freund. Dazu gehört auch die Sehnsucht, die Sie in dieser Zeit der Trauer besonders empfunden haben: Das Vermissen eines Menschen, der Teil des Lebens war und der das nun nicht mehr ist.

Und dann gibt es noch diese dritte Sehnsucht, von der Rilke spricht. Diese namenlose Sehnsucht, die nichts Bestimmtes ersehnt, niemand Besonderen vermisst, aber trotzdem manchmal schmerzhaft am Herzen zieht. Man spürt sie, wenn man etwas so Schönes erlebt, dass man es fast nicht ertragen kann. Wenn man sich eins mit allem fühlt und zugleich ganz klein. Wenn man über sich den hohen Himmel hat und vor sich den weiten Horizont am Ufer des Meeres, auf dem Gipfel eines Berges. Oder wenn man Rückschau auf sein Leben hält und sich fragt, ob da noch etwas kommt, und wenn ja, was?

Paulus beschreibt diese namenlose Sehnsucht so:

„Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, unsere Behausung aus dem Himmel anzuziehen.”

Paulus beschreibt die namenlose Sehnsucht mit einem ganz anderen, uns fremden Bild einer  Behausung. Er vergleicht unseren Körper mit einem Haus,  genauer: mit einem Zelt. Das kommt wohl daher, dass Paulus von Beruf Zeltmacher war. Aber es trifft unsere Erfahrung: Das Zelt ist ein Provisorium, nicht auf Dauer angelegt. Es wird von Wanderern benutzt, von Nomaden, die heute hier, morgen dort sind. Getriebene, manchmal Vertriebene. Gestrandete, wie die Flüchtlinge an Polens Grenze.
Weil das Zelt nur ein Provisorium ist, steht es für eine Sehnsucht nach Dauer, nach Festigkeit und Geborgenheit. Es steht für den Wunsch,  irgendwo ankommen und bleiben zu können, ein Zuhause zu finden.
Das Zelt zeigt uns aber auch: Dieses Zuhause bleibt immer provisorisch. So, wie unser Körper gefährdet und zerbrechlich ist - außer Gefecht gesetzt und in Lebensgefahr gebracht werden kann von unsichtbaren Viren, wie er altert und anfällig wird - so ist auch unser Zuhause nur vorübergehend ein Zuhause, selbst, wenn wir unser ganzes Leben darin zubringen.

Ist unser Elternhaus denn noch das Elternhaus, wenn die Eltern dort nicht mehr leben? Fehlen dann nicht die, die das Haus erst zu einem Zuhause gemacht haben?
Wenn wir die Wohnung einer Gestorbenen ausräumen müssen: Bleibt dann nicht nur eine leere Hülle, etwas Fremdes, weil die, die einmal darin lebte, sie nicht mehr ausfüllt?
Sind die Dinge, die der Gestorbenen gehörten und die für sie und für uns eine Bedeutung hatten, jetzt nicht nur noch Gegenstände, die man bei „Bares für Rares” oder auf dem Trödel verkauft und die bestenfalls noch an die erinnern, die sie einmal besessen hat?

Unser Körper - ein Zelt. Wir spüren, dass dieses Bild stimmt; wir spüren es am eigenen Leib. Das Älterwerden. Den Verlust von Beweglichkeit, Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft.
Wir sahen es an den Menschen, von denen wir in diesem Jahr Abschied nehmen mussten: Wie sie immer weniger wurden. Wie sie langsam verfielen, körperlich, geistig. Wie sie sich allmählich von uns und aus ihrer Umwelt entfernten, Dinge vergaßen, Menschen nicht mehr erkannten oder den Wunsch äußerten: „Ich wollt, dass ich daheime wär”. Und damit meinten sie nicht das Haus, in dem sie ihr Leben verbracht hatten.

„Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, unsere Behausung aus dem Himmel anzuziehen.”

Es gibt eine rätselhafte, namenlose Sehnsucht nach Erfüllung, nach einem Ankommen und zu Hause Sein. Und es gibt das Gefühl, dass diese Sehnsucht real ist. Nicht nur ein Wunschtraum, keine Einbildung, sondern etwas Wirkliches und Wahrhaftiges.

„Der uns aber dazu bereitet hat, ist Gott, der uns als Anzahlung den Geist gegeben hat.”

Unsere Sehnsucht nach Erfüllung hat ein Ziel, und dieses Ziel ist Gott, der die Fülle ist und der Leben in Fülle gibt. Bei Gott, so fühlen wir, gibt es eine Antwort auf unsere Fragen. Gibt es Heilung für unsere Schmerzen, für unsere Seele. Gibt es ein Leben, dessen Sinn wir nicht erst finden müssen, sondern das seinen Sinn und seine Erfüllung in sich trägt. Das meint Paulus mit der „Behausung vom Himmel”.

Gott ist für uns „im Himmel”. Das bedeutet nicht, dass er oben auf einer Wolke sitzt, mit den Beinen baumelt und auf das Gewimmel hier unten herabblickt. Das Himmelszelt ist wie ein Dach über unseren Köpfen. Wenn wir uns Gott im Himmel vorstellen, so ist er dieses schützende Dach. Gott blickt uns sozusagen „von oben” an, blickt uns unser ganzes Leben lang freundlich an, wie es unsere Eltern taten, als wir noch in der Wiege lagen und in den Himmel ihrer strahlenden Gesichter hinaufsahen. Gott ist wie das Himmelszelt: Jenseits der Gefahren und Wechselfälle des Lebens ist Gott. Gott steht hinter uns, Gottes Augen wachen über uns. Gott wendet die Gefahren nicht ab, er greift nicht in unser Leben ein. Er ist da, leidet und freut sich mit uns. Ist immer an unserer Seite, was auch geschieht. 

Gott ist „im Himmel”. Gott ist der Himmel. Deshalb zieht es unseren Blick manchmal nach oben. Deshalb empfinden wir diese rätselhafte, namenlose Sehnsucht. Sie ist real, diese Sehnsucht. Aber wie kann etwas wirklich sein, was der Erfahrung, dem Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken entzogen ist?

Unser Herz sagt uns, dass es wirklich ist. Unser Herz fühlt, dass es wahr ist. Unser Herz fühlt es, weil es erfüllt ist von Gottes Geist. Dem Geist, den wir bei der Taufe erhalten haben. Dem Geist, der diese rätselhafte Sehnsucht verursacht, dieses Ziehen im Herzen, das wir manchmal spüren. Er ist die Anzahlung, das Unterpfand dafür, dass da noch etwas kommt, dass das nicht alles gewesen ist. Ein Versprechen, eine Anzahlung, die uns bei unserer Taufe gegeben wurde.

Unsere Taufe - lang, lang ist’s her. Das Wasser der Taufe ist längst getrocknet. Es hat keine Spur hinterlassen. Wir können es nicht sehen wie eine Tätowierung, die sagt: Es stimmt.

Unsere namenlose, rätselhafte Sehnsucht muss ein Rätsel bleiben, wenn man auf sichtbare Beweise wartet. Denn das Sichtbare ist provisorisch und vergänglich wie ein Zelt. Die Lösung des Rätsels wird nur dem Glauben geschenkt. Dem Glauben, der selbst ein Geschenk ist: Das große Geschenk, das wir bei der Taufe erhielten und das wir seither besitzen.

Der Glaube vergewissert uns, dass auf uns noch etwas wartet: Eine neue Behausung; eine Verwandlung; ein neues Leben; ein Zuhause bei Gott. Es wartet auf uns und auf die, die uns vorangingen. Ihre und unsere Sehnsucht wird sich erfüllen.

„Der uns aber dazu bereitet hat, ist Gott, der uns als Anzahlung den Geist gegeben hat.”

Amen.