Freitag, 31. Dezember 2021

wachsen lassen

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2021, über Matthäus 13,24-30

Getreidefeld

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das von Aussaat und Ernte erzählt, passt gut zum Rückblick auf das fast vergangene Jahr. Wir haben ja tatsächlich manches ausgesät: Radieschen und Raps, Wicken und Weizen, Gurken und Gerste. Vieles davon noch im selben Jahr geerntet. Manches, wie der Winterweizen, wird erst im kommenden Jahr Frucht bringen. Und wer vielleicht aus einem Apfelkern einen Apfelbaum gezogen hat, wird einige Jahre warten müssen, bis sich herausstellt, welche Art von Äpfeln er trägt.

Wie das, was wir gesät haben, ist auch das, was wir in diesem zurückliegenden Jahr begonnen haben: Viele Erfolge oder Misserfolge haben sich gleich eingestellt. Manches wird sich erst im kommenden Jahr ergeben. Und manches Vorhaben, manche Entscheidung braucht noch Zeit, um zu reifen und wird erst in einigen Jahren Früchte bringen.

Eine Entscheidung muss „reifen”, sagt man. In unseren Sprachgebrauch sind Säen und Ernten in viele Redewendungen eingeflossen. Beide zusammen in der Warnung: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten”.
An diesem Bild wird deutlich, dass unser Tun Kreise zieht wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Die Folgen unseres Tuns entwickeln und entfalten sich allmählich, wie aus dem Samenkorn der Keimling  sprießt, der sich streckt und wächst und schließlich Frucht bringt.

Aber was sät man eigentlich in den Redewendungen? Man sät Zwietracht oder Misstrauen, Feindschaft oder Zweifel. Während wir im wahren Leben gute Saat ausbringen, von der wir auch eine gute Ernte erwarten, ist das, was wir in den Redewendungen aussehen, gar nicht gut. Scheinbar wird nichts Gutes gesät, wenn vom Säen im übertragenen Sinn die Rede ist. Das Gute wird statt dessen geerntet: Man erntet Lob, Erfolg, Anerkennung. Man erntet Beifall oder Applaus. 

Was in Redewendungen gesät wird, ist Schlechtes, während das Gute, das wir ernten, jedenfalls nicht von uns ausgesät wurde. Woher kommt dieses pessimistische Menschenbild, das seinen Niederschlag in unserer Sprache gefunden hat? Tatsache ist doch, dass wir auch viel Gutes aussäen, nicht nur im Garten oder auf dem Acker. Wir säen Gutes in Form von guten Taten, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, Trost und Ermutigung. Trotzdem heißt es nicht: „Mir hat jemand Trost gesät”, sondern: „Jemand hat mir Trost gespendet.” Nicht: „Du hast mir Mut gesät”, sondern: „Du hast mir Mut gemacht.”

Unsere Sprache verrät, dass das Saatgut zum Guten nicht von uns kommt. Unsere eigene Muttersprache stellt uns dem Feind gleich, der das Unkraut unter den Weizen sät, wenn sie uns nur Zweifel und Feindschaft aussäen lässt, nicht aber Freundschaft oder Glaube. Das ist sicher kein Zufall. Darin zeigt sich ein Grundzug unseres Menschseins. „Denn”, schreibt der Apostel Paulus an die Römer (Röm 7,19), „das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.” Es ist unser Menschsein, das Paulus da beschreibt. Er beschreibt es nüchtern, ohne jede Kritik. So sind wir. Theoretisch könnten wir auch anders. Aber praktisch gelingt es uns nicht. Die Corona-Proteste zeigen es uns, und auch, dass eine Debatte um die Triage nötig ist. Offenbar ist es nicht selbstverständlich, dass für alle Erkrankten alles menschenmögliche getan wird, damit sie gesund werden. Weil viele unter Berufung auf ihre Freiheit keine Rücksicht auf andere nehmen wollen, müssen einige fürchten, im Zweifel nicht behandelt zu werden.

Woher kommt dann aber das gute Saatgut? Wer gibt uns den Weizen, den wir am Ende des Jahres ernten? Der Hausherr im Gleichnis, der das gute Saatgut aussät, ist Gott. Jesus erzählt das Gleichnis, um etwas von Gottes Wirklichkeit zu zeigen: „Das Himmelreich gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte.” Gott arbeitet unermüdlich daran, dass sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe mitten unter uns wachsen und sich entfalten kann. Wir, seine eifrigen Mägde und Knechte, freuen uns, dass der Weizen, das Reich Gottes, wächst. Voller Sorge sehen wir aber auch das Unkraut unter dem Weizen. Wir sehen das Schlechte, das andere gesät haben und das wir selbst aussäten, und fürchten, es könnte den Weizen überwuchern.

Das Unkraut wächst mitten unter dem Weizen; man kann es aber nicht herausreißen, ohne den Weizen in Mitleidenschaft zu ziehen. Gutes und Böses lassen sich nicht so ohne weiteres trennen. So ist es auch in unserem Leben: Gutes und Böses, Schönes und Schweres, Glück und Leid sind eng miteinander verflochten. Manchmal kann man gar nicht so genau sagen, wo das Schlechte aufhört und das Gute  anfängt. Und im Rückblick relativiert sich auch manches: was schlecht erschien, nahm eine gute Wendung. Und was wir anfangs für eine gute Idee hielten, entpuppt sich im Nachhinein als Fehler.

Erst die Ernte trennt die Spreu vom Weizen. Im Gleichnis wird das Unkraut zuerst eingesammelt. Das entspricht unserer Wahrnehmung: Wir sehen zuerst das Schwere, den Kummer, das Leid. Wir sehen zuerst unsere Fehler, unser Versagen, unsere Schuld. Sie drängen sich in den Vordergrund, verdrängen das Gute, sodass es scheint, als wäre gar nichts Gutes dagewesen. Man muss sich manchmal richtig anstrengen, um hinter all dem Negativen das Gute zu sehen und hervorzuholen.

Darum wird das Unkraut verbrannt: Es soll nicht mehr den Weizen, das Gute, verdrängen, und es soll sich nicht weiter aussäen können. Das Verbrennen hat noch eine weitere Bedeutung: In der Bibel dient das Feuer zur Reinigung - der Goldschmied trennt damit das Silber von der Schlacke.

Leidvolles, Belastendes, Schweres, der Gedanke an eigene Schuld, eigenes Versagen, eigene Fehler lähmen und ziehen einen herunter. Sie verdecken und verdrängen nicht nur all das Schöne. Sie lassen auch, wie eine dunkle Brille, alles grau und farblos erscheinen. So blickt man schon hoffnungslos und trübsinnig auf das neue Jahr, bevor es überhaupt begonnen hat.

Aber wie das Feuer das Silber von der Schlacke trennt, so hilft die Unterscheidung von Gutem und Bösem, von Unkraut und Weizen, das Gute zu sehen und das Böse ins Verhältnis zu setzen. Die Ernte bildet den Rahmen, in dem alles seinen Platz bekommt. Dann kann das Schlechte nicht mehr alles andere verdrängen, sondern bekommt seinen Ort neben dem Guten. Und man erkennt mit einem Mal, dass gar nicht so viel schlecht war, wie man dachte, und dass der Anteil des Guten viel größer war, als man meinte.

Den Rahmen des Gleichnisses bildet das Reich Gottes: Gottes Wirklichkeit umspannt mehr als ein Jahr, sie umfasst unser ganzes Leben. Sie bildet den Rahmen auch unseres Lebens - des Jahres, das gerade vergeht, und des Jahres, das vor uns liegt.

Gottes Wirklichkeit gibt dem, was wir im zurückliegenden Jahr erlebten, sein Maß, und allem, was uns darin widerfahren ist, seinen Platz. Das Schwere, das Belastende, das Leid hat seinen Platz darin, und ebenso das Schöne, Beglückende - so, wie das Unkraut im Gleichnis mitten unter dem Weizen wächst.

Gott selbst sät den guten Samen aus, durch den seine Wirklichkeit im Kommen ist, wie unter der Erde schon die Saat wartet, die im nächsten Frühjahr aufgehen wird.

Und Gott vergibt alle Schuld, jeden Fehler, jede Unzulänglichkeit. Gott hat uns ja so geschaffen: Als Menschen, die menschlich handeln, das heißt: die oft zuerst an sich denken und dann erst an andere; die das Gute wollen, aber das Böse tun, weil sie in der ihnen geschenkten Freiheit  vergessen, zu unterscheiden und mitzufühlen.

Das neue Jahr liegt vor uns, eine weite Fläche Zeit. Wir dürfen darauf vertrauen,  ja, können uns darauf verlassen, dass Gott auch im kommenden Jahr sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe wachsen lassen wird. Und dass wir als seine Mägde und Knechte daran mitarbeiten dürfen, uns freuen dürfen, wie es wächst und wie es sich behauptet gegen alles Unkraut. Wir werden auch im neuen Jahr die Erfahrung machen, dass manches, was wir für Unkraut hielten, gar keines war - man sagt ja auch nicht mehr „Unkraut”, sondern „Wildkraut”. Und dass wir froh sind, dass wir es nicht ausgerissen haben.

„Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird euch auch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.” (2.Kor 9,10)