Donnerstag, 23. Dezember 2021

Zärtlich achtet die Liebe das Kleine

Predigt zur Christvesper am 24. Dezember 2021 über Micha 5,1-4a

Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Altarschnitzerei aus der Kirche in Kreien.

Liebe Schwestern und Brüder,

vom Frieden auf Erden singen die Engel, die den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilandes verkündigen. Friede auf Erden - ein Wunsch, der allen Menschen gemein ist, über alle Grenzen hinweg. Hinweg auch über alle Unterschiede von Herkunft oder Hautfarbe, von Glaube oder Geschlecht, von Arbeit oder Ausbildung.
Friede auf Erden - an Weihnachten meint man, ihn zu spüren, ihn mit Händen greifen zu können. Er erfüllt unsere Herzen und unsere Gemeinschaft, wir nehmen ihn mit nach Hause, und er erfüllt eine zeitlang auch unsere Stube, ist oft am nächsten Morgen noch zu spüren.

Heute ist der Friede zum Greifen nah. Heute denken wir nicht in Kategorien von Freund oder Feind. Heute wünschen und gönnen wir allen Menschen nur Gutes;  sogar den alten Feinden. Und manche* denkt heute vielleicht: Warum kann es nicht immer so sein? Warum können wir nicht jeden Tag so wohlmeinend, so aufgeräumt, so freundlich und so gut gesinnt sein, wie wir es heute sind?

Woher kommt der Frieden, den wir heute empfinden? Er kommt vom Blick in die Krippe. Wer kein Herz aus Stein hat, schmilzt beim Anblick eines Neugeborenen dahin und wünscht dem kleinen Menschenwesen nur das Beste, ist erfüllt von Güte, Freundlichkeit - und Frieden.
Diesen Blick in die Krippe haben wir getan, als wir die altvertrauten Worte der Weihnachtsgeschichte hörten. Wieder einmal haben sie uns im Innersten berührt. Sie haben uns den Weihnachtsfrieden geschenkt, den wir alle Jahre wieder zu finden hoffen, wenn wir zur Christvesper gehen. Den wir anschließend mit nach Hause nehmen, ihn sorgsam hüten wie die Flamme einer Kerze, die wir in unserer hohlen Hand bergen, damit kein plötzlicher Windstoß sie auslöscht.

Wir haben natürlich nicht wirklich in eine Krippe gesehen. Wir haben uns beim Hören der altvertrauten Worte wahrscheinlich nicht einmal eine Krippe vorgestellt. Trotzdem haben diese Worte uns hinschmelzen lassen, wie uns sonst nur der Anblick eines Kleinkindes hinschmelzen lässt.
Denn sie stellen der uns bedrückenden Wirklichkeit, dem durch Corona eingeschränkten und so stark veränderten Alltag den Engel entgegen, der uns sagt, dass wir uns nicht zu fürchten brauchen.
Sie stellen uns den Engel zur Seite, der allen, die guten Willens sind, den Frieden verkündet.
Und sie stellen uns die Hirten vor Augen, arme, einfache, ungebildete Menschen, die sehen durften - und wir mit ihnen -, wofür Könige ein Vermögen gegeben hätten, wenn sie es hätten sehen dürfen; worauf Generationen von weisen Männern und von mächtigen Politkern vergeblich gewartet haben.

Das Geheimnis der Weihnacht ist nicht geheim. Jede* darf es wissen, jede* kann es sehen: Es ist das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind in der Krippe.

Ein Kind? Wo ist da das Geheimnis?

Wer so fragt, wird das Geheimnis der Weihnacht nicht erfahren. Um es zu erleben und zu verstehen, muss man sich klein machen, damit man auf Augenhöhe kommt mit dem Kind. Und man muss hinsehen, damit das Herz hinschmelzen kann beim Anblick dieses Kindes. Nur so erlebt und versteht man, dass die Macht dieses Kindes nicht in Gewalt, in Lautstärke oder Einfluss besteht, sondern in der Liebe, mit der es uns berührt und unseren Herzen Frieden schenkt.

Das könnte der Grund sein, warum wir nicht öfter den Frieden empfinden, den wir heute spüren. Warum wir nur an Weihnachten so wohlmeinend, so aufgeräumt, so freundlich und so gut gesinnt sind: Weil uns das göttliche Kind in den restlichen 364 Tagen des Jahres nicht so vor Augen steht wie heute. 

Ein Weg, den Frieden der Weihnacht auch an den anderen Tagen des Jahres, auch im Alltag zu empfinden, könnte deshalb sein, dass wir uns hin und wieder auf Augenhöhe begeben. Nicht herabschauen auf andere, nicht über sie hinweg sehen. Sondern ihnen in die Augen sehen und das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind entdecken, das diese Menschen einmal waren. Und sie das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind sehen lassen, das wir noch immer sind.

Ein Weg, den Frieden der Weihnacht ins neue Jahr mitzunehmen, könnte sein, dass wir hinsehen lernen. Lernen, zu sehen, worüber wir bisher hinwegsahen, worauf wir bisher herabschauten, was wir bisher nicht sehen wollten.

Es kann sein, dass die empfindliche Flamme des Friedens trotzdem verlischt. Aber das Kind, das der Friede ist, wird uns ansehen, wenn wir hinsehen. Sein Blick wird die Flamme des Frieden neu  entzünden, an jedem Tag des neuen Jahres, wenn wir es wollen.