Samstag, 22. Januar 2022

im Machtbereich Gottes

Predigt am 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022, über Matthäus 8,5-13



Liebe Schwestern und Brüder,


eine merkwürdige Begegnung zwischen Jesus

und dem Offizier der römischen Besatzungsmacht.

Merkwürdig, weil Besatzungssoldaten

normalerweise nicht mit der einheimischen Bevölkerung verkehren.

Oft verstehen sie nicht einmal die Landessprache,

benötigen Dolmetscher, um sich mit den Einheimischen verständigen zu können.

Die wiederum machen einen großen Bogen um die Besatzer.

Denn erstens bedeutet es Ärger, wenn einen ein Soldat anspricht.

Er kann einen sogar dazu zwingen, seine Ausrüstung zu schleppen.

Jesus beschreibt in der Bergpredigt,

wie man auf einen solchen Befehl reagieren soll:

„Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen,

so gehe mit ihm zwei” (Matthäus 5,41).

Diese Macht der Besatzungssoldaten, Einheimische zu etwas zu zwingen,

führt zweitens dazu,

dass sie nicht gut auf die Besatzer zu sprechen sind

oder sie sogar aus vollem Herzen hassen.


Insofern ist es merkwürdig,

dass der römische Offizier nicht einfach befiehlt,

Jesus solle seinen kranken Knecht heilen,

sondern ihn darum bittet.

Und sich auch noch auf ein Gespräch einlässt,

nachdem Jesus seine Bitte ablehnt.

Denn die Antwort Jesu kann man nicht nur so übersetzen,

wie Martin Luther es tut:

„Ich will kommen und ihn gesund machen”.

Wahrscheinlicher ist es, dass Jesus fragt:

Ich soll kommen und ihn gesund machen?”

Nicht nur wegen des angespannten Verhältnisses

zwischen Einheimischen und Besatzungssoldaten

ist die Ablehnung viel wahrscheinlicher.

Sondern auch, weil Jesus sich unrein machen würde,

wenn er das Haus eines Heiden beträte.

Wahrscheinlich ist also,

dass Jesus die Bitte des Offiziers zunächst ablehnt.


Nun kommt die dritte Merkwürdigkeit:

Der Offizier ist wegen der Ablehnung weder beleidigt noch wütend.

Er droht Jesus auch nicht, was er wohl könnte,

oder tut ihm gar etwas an. Im Gegenteil:

Ganz demütig nennt er ihn Kyrie, Herr.

Und noch merkwürdiger ist, was er dann sagt:

„Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst.”


„Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst.”

Warum sollte ein römischer Offizier so etwas sagen?

Die Sieger, die Erfolgreichen halten sich zu allen Zeiten für besser

als die Besiegten, die Verlierer.

Die wiederum blicken verbittert oder neidisch zu den Siegern auf.

Aus dem Mund des Offiziers würden man deshalb

diesen Satz nicht erwarten,

ja, er ist geradezu unerhört:

Der Befehlshaber über eine Kompanie Soldaten

macht sich gegenüber einem Zivilisten klein

und nennt sich „unwürdig”!

Wie kommt es zu einer solchen Einsicht?


Wann würden wir so empfinden wie der römische Offizier?

Wann würden wir denken oder sagen: „Ich bin unwürdig”,

oder: „Womit habe ich das verdient?”

Vielleicht, wenn der unwahrscheinliche Fall einträte,

dass wir jemandem begegnen, den wir sehr bewundern -

ein Filmstar, eine bedeutende Politikerin, eine große Künstlerin.

Dass wir eine Auszeichnung bekommen, die wir nicht erwartet haben,

oder ein besonderes Amt übernehmen sollen, das wir uns nicht zutrauen.

Haben wir uns überhaupt jemals unwürdig gefühlt,

oder das sogar ausgesprochen?


Wir sprechen es jedenfalls häufiger aus, als wir denken

und wahrscheinlich viel häufiger, als wir es fühlen.

Wir tun es jedes Mal,

wenn wir im Gottesdienst miteinander singen:

Kyrie, eleison - Herr, erbarme dich!”

Denn das „Herr, erbarme dich!” sagt dasselbe,

was der Offizier zu Jesus sagt:

„Ich bin nicht würdig …”


Kyrie, eleison” - „Ich bin nicht würdig …”

Wir sagen das nicht, um uns vor Gott klein zu machen,

um uns klein oder schlecht zu fühlen.

Sondern, um einen Unterschied zu benennen.

So, wie es einen Unterschied zwischen Jesus und dem Offizier gibt:

Jesus kann das Haus des Offiziers nicht betreten,

ohne sich dabei zu verunreinigen.

Oder so, wie die Uniform des römischen Soldaten ihn

von der Zivilbevölkerung unterscheidet.


„Ich bin nicht würdig” bedeutet deshalb nicht:

Ich bin schlecht. Ich bin nichts wert.

Sondern es bedeutet:

Ich kann in deinen Bereich nicht hinein,

weil ich nicht dazugehöre.


Dieses Gefühl kennen wir.

Manche kennen es vielleicht sogar zu gut:

Das Gefühl, draußen zu stehen,

ausgeschlossen zu sein,

nicht dazu zu gehören.

Das ist das „Heulen und Zähneklappern”,

von dem Jesus spricht.

Denn wenn man nicht dazugehören darf,

ist einem manchmal zum Heulen.

Dann fühlt man sich ziemlich genau so,

wie der Offizier es beschreibt:

„Ich bin nicht würdig.”


Diese Sehnsucht, dazuzugehören,

das ist es, was Jesus hier „Glauben” nennt.

Und wenn er sagt:

„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden”,

so ist das kein Wunder.

Denn die Juden gehören bereits dazu.

Sie sind Gottes erwähltes Volk.

Andere beneiden sie darum.

Im Laufe der Geschichte wurde immer wieder versucht,

ihnen das abspenstig zu machen,

ihnen gar diese Zugehörigkeit abzusprechen -

leider gerade von Christen.


Die Juden gehören dazu.

Das ist eine ganz andere und viel wertvollere Zugehörigkeit

als die Zugehörigkeit zum Militär

oder zur römischen Besatzungsmacht.

Indem der römische Offizier bekennt:

„Ich bin nicht würdig”, erkennt er das an.

Er erkennt an, dass es noch einen anderen Machtbereich gibt

als den, den er vertritt:

Die militärische, physische Gewalt,

die Machtansprüche durchsetzt, Menschen zwingt.

Dieser andere Machtbereich ist der Machtbereich Gottes.

Er ist anders, größer als die Mächte dieser Welt.

In diesem Machtbereich Gottes genügt ein Wort,

damit der von schrecklichen Qualen heimgesuchte Knecht wieder gesund wird.


Diesem Machtbereich Gottes unterstellen wir uns,

wenn wir sonntags im Gottesdienst bitten:

Kyrie, eleison - Herr, erbarme dich!”

Und diese Bitte macht uns nicht klein,

sie erniedrigt uns nicht.

Denn wir wissen: Wir gehören dazu.

Gott hat uns angenommen als seine Kinder,

aufgenommen in sein erwähltes Volk,

in dem Jüdinnen und Juden unsere großen Schwestern und Brüder sind.

Unter dem Dach dieser Kirche sind wir Zuhause,

hier sind wir willkommen,

hier dürfen wir sein und bleiben:

Würdig, unter Gottes Dach zu treten

und in seiner Nähe zu sein.