Freitag, 27. Mai 2022

Ach!

Predigt am Sonntag Exaudi, 29. Mai 2022, über Römer 8,26-30:

Ebenso steht uns auch der Geist bei in unserem Angefochtensein.

Denn wir wissen nicht, was beten, wie man es sollte.

Doch der Geist selbst legt Fürsprache für uns ein

mit unaussprechlichen Seufzern.

Gott aber, der die Herzen ergründet, weiß, was der Geist will.

Denn der Geist bittet für die Heiligen, wie Gott es will.

Wir wissen aber, dass für die, die Gott lieben,

alles mitwirkt zum Guten.

Sie sind nach Gottes Willen berufen.

Denn die er bereits im Voraus kannte,

die hat er auch im Voraus bestimmt,

dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden,

damit er der Erstgeborene unter vielen Geschwistern sei.

Die er im Voraus bestimmte, die hat er auch berufen,

die hat er auch gerecht gemacht.

Die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.



„Wir hielten vor einem kleinen türkischen Kloster,

in dem Derwische lebten, die jeden Freitag tanzten.

Das grüne Bogentor zeigte auf dem Türbalken eine bronzene Hand,

das heilige Zeichen Mohammeds.

Wir traten in den Hof.

Aus einer Zelle kam ein Derwisch auf uns zu.

Er legte grüßend die Hand auf Brust, Lippen und Stirn.

Wir setzten uns.

Der Derwisch sprach von den Blumen,

die wir rundum sahen, und vom Meer,

das zwischen den spitzen Blättern des Lorbeerbaums blitzte.

Später begann er, über den Tanz zu sprechen.

- ‚Wenn ich nicht tanzen kann, kann ich nicht beten.

Ich spreche durch den Tanz zu Gott.’

- ‚Was für einen Namen gebt Ihr Gott, Ehrwürden?’

- ‚Er hat keinen Namen’, antwortete der Derwisch.

‚Gott kann man nicht in einen Namen pressen.

Der Name ist ein Gefängnis.

Gott ist frei.’

- ‚Wenn Ihr ihn aber rufen wollt?

Wenn es notwendig ist, wie ruft Ihr ihn?’

- ‚Ach!’, antwortete er. ‚Ach!’ werde ich ihn rufen.


(Nikos Kazantzakis, zitiert bei Hubertus Halbfas, Der Sprung in den Brunnen, S. 105f.)



Liebe Schwestern und Brüder,


Ach!

Das haben Sie bestimmt schon oft gesagt oder gedacht.

Vielleicht ist es noch gar nicht lange her,

dass Sie „Ach!” sagten oder dachten:

- als sich morgens beim Aufstehen die vertrauten Schmerzen wieder meldeten;

- als Sie vom Tod eines Menschen erfuhren, den Sie gern hatten;

- als Sie sich fragten, wie Sie mit einer neuen Belastung fertig werden sollten.


Auch, wenn man unerwartet etwas geschenkt bekommt, sagt man „Ach!”:

„Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen!”

Oder wenn man z.B. von einer beeindruckenden Aussicht,

einem Sonnenuntergang überwältigt wird, sagt man:

„Ach, ist das schön!”


„Der Geist selbst legt Fürsprache für uns ein

mit unaussprechlichen Seufzern.”

Der Ausruf „Ach!” ist so ein Seufzer, den wir tun,

wenn uns die Worte fehlen.

Wenn wir von Schmerz, von Trauer, vom Schreck überwältigt sind

und auch, wenn uns Schönheit oder Freude überwältigen.

In diesem „Ach!” klingt so vieles mit,

ein ganzes Bündel an Gedanken, Befürchtungen, Wünschen und Eindrücken,

die alle in diesem Moment da sind und zu einem „Ach!” zusammenfließen.

Und damit ist dann alles gesagt.

Mehr könnten wir in diesem Moment nicht sagen.

Paulus meint sogar, dass nicht wir es sind, die dann sprechen,

sondern der Heilige Geist.


In den ersten christlichen Gemeinden,

als es noch ziemlich wild und ungeordnet zuging

und keine kirchliche Obrigkeit da war,

die ordnend und disziplinierend einschritt,

gab es noch die sogenannte „Zungenrede”:

Gläubige, die vom Heiligen Geist ergriffen wurden,

fingen im Gottesdienst plötzlich an,

vor sich hin zu brabbeln oder laut zu schreien.

Man verstand nicht, was sie sagten;

es war keine Sprache und wenn,

dann keine, die man kannte.

Sie störten, sie unterbrachen die heilige Versammlung,

weil der Geist sie dazu trieb.

Und weil der Geist sich nur mit unaussprechlichen Seufzern mitteilt,

verstanden die anderen nichts.

Die vom Geist Ergriffenen redeten auch nicht zur Gemeinde.

Sie sprachen mit Gott.

Und fühlten sich von Gott verstanden.


„Gott aber, der die Herzen ergründet, weiß, was der Geist will.”

Gott versteht auch unser „Ach!”

Wir müssen Gott nicht erklären, was mit uns ist,

was uns bekümmert oder belastet,

welche Freude, welches Glück uns erfüllt.

Manchmal, da möchte, da muss man reden:

„Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.”

Und manchmal fehlen einem die Worte.

Man kann, man möchte nichts sagen.

Dann übernimmt der Heilige Geist für uns das Reden,

und wir sagen: „Ach!”


Wie empfinden Sie es,

dass der Heilige Geist in solchen Momenten aus Ihnen spricht?

Früher, als man noch an Geister glaubte,

sprach man von „Besessenheit”,

wenn jemand anderes aus einem redete.

Heute sagt man, ein solcher Mensch habe eine „multiple Persönlichkeit”.

Der Heilige Geist aber ist nichts Krankhaftes,

und er ist auch nicht bösartig - im Gegenteil:

„Der Geist legt Fürsprache für uns ein.”

Der Heilige Geist spricht für uns, wenn uns die Worte fehlen.

Er spricht durch uns sein „Ach!”,

und Gott versteht ihn.

„Gott, der die Herzen ergründet, weiß, was der Geist will.”


Es ist also nichts Unheimliches,

nichts Unnormales oder Krankhaftes,

wenn der Heilige Geist durch uns spricht.

Im Gegenteil: Es ist für uns ein Zeichen,

dass wir Gottes Geist besitzen.

Denn Gott verteilt seinen Geist nicht beliebig nach dem Gießkannenprinzip:

„Die Gott bereits im Voraus kannte,

die hat er auch im Voraus bestimmt,

dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden,

damit er der Erstgeborene unter vielen Geschwistern sei.”


Bei seiner Taufe sieht Jesus den Geist Gottes

wie eine Taube auf sich herabkommen,

und Gottes Stimme sagt:

„Du bist mein geliebter Sohn,

an dir habe ich Wohlgefallen” (Markus 1,11).

Wenn auch bei unserer Taufe kein Geist zu sehen

und keine Stimme vom Himmel zu hören war,

gelten Gottes Worte an seinen Sohn auch uns.

Gott spricht:

„Du bist meine geliebte Tochter,

du bist mein geliebter Sohn,

an dir habe ich Wohlgefallen.”


Mit diesen Worten hat Gott uns berufen,

schon bei unserer Taufe.

Darum gilt uns all das Gute,

das Paulus in einer langen Reihe aufzählt:

„Denn die Gott bereits im Voraus kannte,

die hat er auch im Voraus bestimmt,

dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden,

damit er der Erstgeborene unter vielen Geschwistern sei.

Die er im Voraus bestimmte, die hat er auch berufen,

die hat er auch gerecht gemacht.

Die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.”


Diese lange Liste will besagen,

dass für uns gesorgt ist.

Nicht im materiellen Sinn,

nicht, was unsere berufliche Zukunft

oder unsere Alterssicherung angeht.

Sondern in einem viel weitergehenden Sinn

hat Gott dafür gesorgt, dass unser Leben gelingt.

Was auch immer uns passiert,

was auch immer wir erleben oder erleiden müssen:

Unser Leben hat sich erfüllt,

weil es von Gott erfüllt ist.

Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen,

etwas verpasst zu haben im Leben,

zu kurz gekommen zu sein.

Und auch das, was wir getan haben

oder noch tun werden

hat keinen Einfluss darauf, dass Gott uns berufen hat.

Seine Berufung nimmt Gott niemals zurück.

Niemals wird Gott bereuen, dass er zu uns sagte:

„Du bist mein geliebter Sohn,

du bist meine geliebte Tochter.”

Dabei wird es immer bleiben.


Weil Gott uns so liebt,

können wir auch Gott lieben -

so, wie Kinder lernen, was Liebe ist,

wenn sie von ihren Eltern Liebe erfahren.

„Denen aber, die Gott lieben, wirkt alles mit zum Guten.”

Wer Gott liebt, sagt Paulus, ist ein „Hans im Glück”.

Denn in ihrem, in seinem Leben kann nichts mehr schief gehen.

Selbst negative, schlimme Erfahrungen tragen noch dazu bei,

dass das Leben gut wird.


„Denen aber, die Gott lieben, wirkt alles mit zum Guten.”

Man kann diesen Satz missverstehen.

Man könnte meinen, Leiden, Krankheit oder der Tod

hätten einen Sinn,

wären am Ende gar von Gott gewollt und also gut.

Aber so ist es nicht.

Leiden, Krankheit und Tod sind sinnlos.

Sie sind niemals gut.

Und Gott gefallen sie nicht.

Gott will sie nicht und bekämpft sie.

Warum sonst hätte sein Sohn all die Kranken geheilt,

und das sogar am Sabbat?

Warum sonst hätte er sich der Bosheit und Gewalt der Menschen gestellt

und den Tod überwunden durch seine Auferstehung?

Leiden, Krankheit und Tod sind sinnlos und nicht gut.

Aber weil wir Gott lieben, könne sie uns nicht schaden.

Selbst Leiden, Krankheit und Tod können nicht verhindern,

dass unser Leben ein gutes Ende nimmt, ein Happy End.

Ja, sie müssen sogar ihren Teil dazu beitragen.


In all dem verkennt Paulus nicht, dass unser Leben leidvoll ist:

„Der Geist steht uns bei in unserem Angefochtensein.”

Immer wieder fordert das Leben uns heraus,

bringt uns an unsere Grenzen - und darüber hinaus.

Niemand bleibt verschont von Kummer, Leid oder Krankheit.

Darum gibt Gott uns seinen Geist,

dass er uns beisteht,

so, wie früher unsere Mutter, unser Vater für uns da waren,

wenn wir Kummer hatten.

Sie konnten den Kummer, den Schmerz nicht wegnehmen,

aber wir blieben damit nicht allein.

Ihre Liebe gab uns die Kraft, den Schmerz auszuhalten

und gegen den Kummer anzugehen.


In dieser Weise ist Gottes Geist immer bei uns.

Er erinnert uns daran, wie sehr Gott uns liebt

und dass Gott Gutes für uns will:

Wir sollen glücklich sein. Wir sollen leben.

Wir sollen uns und andere lieben.

Und immer, wenn uns alles zuviel wird,

sagt der Geist für uns „Ach!”

Gott weiß dann, wie es um uns steht.

Er hilft uns, das Schwere zu bestehen

und verspricht uns, dass am Ende,

ganz am Ende

das Meer in der Erinnerung blau sein wird.