Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2022, über Jona 3,1-10
Liebe Schwestern und Brüder,
Jona ist ein kleiner Prophet.
Jedenfalls, was den Umfang seines Prophetenbuches angeht:
Gerade einmal vier Kapitel hat es.
Und Jona ist darin die Hauptperson -
so scheint es jedenfalls:
Jona, der vor seinem Auftrag flieht
nach Spanien, ans Ende der damals bekannten Welt.
Jona, den der Fisch verschlingt
und der im Bauch des Fisches
drei Tage Zeit zum Nachdenken hat.
Der schließlich doch umkehrt
und nach Ninive reist.
Jona, der unterm Rizinus sitzt,
um die Zerstörung Ninives zu erleben,
und der mit Gott hadert,
weil er die Stadt nicht zerstört.
Vielleicht ist Jona doch nur ein kleiner Prophet,
so kleinkariert, so hartherzig, wie er ist.
Das Schicksal seiner Rizinusstaude bekümmert ihn mehr
als das Schicksal einer ganzen Stadt
mit all ihren Menschen und Tieren.
Für Jona dreht sich alles um Jona,
und wir werden in diese Drehung mit hinein gezogen.
Entweder, indem wir ärgerlich den Kopf schütteln über diesen Egoisten.
Oder indem wir uns quasi an die Brust schlagen, weil wir erkennen:
wir hätten vielleicht gar nicht so anders empfunden und gehandelt wie er.
Im heutigen Predigttext aber geht es nicht um Jona.
Vielmehr geht es um die Einwohner Ninives.
Es geht darum, sie vor dem Untergang zu bewahren.
Dabei war Ninive längst untergegangen,
als das Jonabuch geschrieben wurde.
612 v. Chr. wurde die Stadt von Truppen der Babylonier und Meder zerstört.
Heute erhebt sich über ihren Fundamenten die Stadt Mossul im Irak.
Auch sie wurde zerstört, sogar mehrmals:
2014, als sie vom sog. „Islamischen Staat” eingenommen wurde,
und 2017 bei der Rückeroberung durch die Koalitionstruppen.
Aus heutiger Sicht ist Ninive eine mehrfach zerstörte Stadt.
Im Jonabuch dagegen unternimmt Gott alles,
um Ninive vor der Zerstörung zu retten.
Wie passt das zusammen?
Die eine Zerstörung, die dann nicht stattfand,
ließ Gott durch Jona androhen.
Alle anderen geschahen von Menschenhand.
Gott droht die Zerstörung an, aber er vollzieht sie nicht.
Man könnte sagen: Gott wendet die Logik der Abschreckung an.
Zur Zeit Jonas funktionierte das noch.
Da traute man Gott noch zu,
dass er Schwefel und Feuer vom Himmel regnen lassen könnte
wie beim Untergang Sodoms und Gomorrhas (1.Mose 19,24).
Da verwechselte man Gottes Macht noch mit den Naturgewalten -
Blitz und Donner, Sturm oder Erdbeben.
Es war eine Verwechslung, die auch heute noch vorkommt,
wenn wir erwarten, Gott möge uns zuliebe
den Lauf der Dinge ändern, die Zeit zurückdrehen
oder die Naturgesetze aushebeln.
So, wie wir das bei den Superhelden in immer neuen Variationen gezeigt bekommen.
Gottes Macht aber besteht darin,
dass Gott Gutes für uns und seine Schöpfung will
und uns dazu seinen Willen ins Herz geschrieben hat.
Zu Jonas Zeit rechnete man deshalb nicht nur mit einem Gott,
der donnern, Blitze schleudern oder die Erde erbeben lassen konnte.
Man fühlte auch, dass man sein Handeln nicht nur vor sich selbst,
sondern vor dieser höheren,
der höchsten Instanz verantworten musste.
Das ist heute nicht mehr der Fall.
Heute ist „Gott” für viele ein Fremdwort,
dessen Bedeutung sie nicht mehr kennen,
das keine Erinnerung bei ihnen weckt,
keine Vorstellung, kein Gefühl auslöst.
Andere glauben an Gott,
aber als etwas Abstraktes, eine Idee, eine Kraft oder eine Energie.
Sie können oder wollen nicht glauben,
dass Gott ein Gegenüber ist,
dass Gott zu uns in Beziehung tritt
und uns einlädt in eine Beziehung mit ihm.
Die Nineviten ignorieren dieses Beziehungsangebot.
Sie leben ohne Gott.
Das führt sie in die Katastrophe.
Warum?
Es ist doch eine Katastrophe, die Gott selbst androht,
während er gleichzeitig alles dafür tut, damit sie nicht eintritt.
Es kann deshalb nicht sein, dass Gott die Nineviten bestrafen will.
Oder dass er von ihnen Satisfaktion fordert
für die Beleidigung seiner Majestät,
wie es Anselm von Canterbury vermutete.
Weshalb wir uns seit dem Mittelalter mit der Sünde herumplagen -
bis Martin Luther diesen alten Zopf abschnitt.
Leider wird er immer wieder angenäht.
Es ist vielmehr die Gottvergessenheit selbst,
die in die Katastrophe führt:
Die Nineviten haben Gottes Gebot vergessen
und verantworten ihr Handeln nicht mehr vor Gott,
sondern nur noch vor sich selbst.
Sie leben auf Kosten anderer.
Sie beugen das Recht.
Sie unterdrücken und benachteiligen Schwächere.
Sie ignorieren das Leid, den Hunger und die Armut anderer.
Sind feindselig gegenüber Fremden.
Leider sind diese Verhaltensweisen nicht mit Ninive untergegangen.
Heute kommen die Bedrohung und Zerstörung der Natur,
die Gefährdung der Schöpfung Gottes und seiner Geschöpfe noch dazu.
Wir erkennen heute, dass wir damit auf eine Katastrophe zusteuern -
eine Klimakatastrophe und, damit verbunden und ihr vorauseilend,
eine Hungerkatastrophe.
Jonas Auftreten bringt den Nineviten die Erinnerung an Gott
und an seine Gebote zurück.
Es trifft sie wie ein Schlag.
Die Nineviten fasten. Sie legen ihre schicke Kleidung ab.
Das ist aber nur der erste Schritt.
Der eigentliche folgt unmittelbar darauf:
die Umkehr.
Kein bloßes Zurückkehren zu einer verklärten Vergangenheit,
in der angeblich alles besser war.
Wohin hätten die Nineviten da auch zurückkehren sollen?
Vielmehr eine radikale Kursänderung,
eine Umwälzung der bisherigen Verhältnisse.
Die Nineviten lassen ihr altes Leben nicht nur vorübergehend hinter sich,
bis sich Gott wieder beruhigt hat.
Sie lassen es endgültig hinter sich,
weil sie erkennen, dass sie Gott und sich selbst nichts vormachen können.
Sie brechen endgültig mit den alten Werten, den alten Gewohnheiten.
Wer weiß - vielleicht ändert auch Gott seine Meinung.
Wer weiß …
Dieses „Wer weiß” geschieht nicht aus Berechnung.
Dann wäre die Umkehr nicht echt.
Erst kommt die Umkehr:
Die Einsicht, dass die bisherige Lebensweise ein fataler Fehler war.
Dann kommt die Hoffnung, dass auch Gott umkehrt.
Und Gott kehrt um. Hat Erbarmen.
Die Stadt, die sich schon wie Sodom und Gomorrha
dem Erdboden gleichgemacht sah, wird nicht zerstört.
Sie lebt.
Puh! Gerade noch mal gut gegangen!
Die Geschichte hat damit ihr gutes Ende gefunden.
Hat sie?
Ist das Ende dieser Geschichte wirklich ein gutes Ende,
eines, das auch wir uns wünschen würden?
Führen wir uns vor Augen:
Ninive wurde nicht zerstört. Aber um welchen Preis!
Die Nineviten ändern sich radikal.
Sie lassen ihr bisheriges Leben hinter sich;
geben auf, was ihnen lieb und wichtig ist,
was ihnen Freude macht,
was ihnen unverzichtbar, unentbehrlich scheint.
Geben vieles auf, um weiterleben zu können.
Wenn man bedenkt, wie schwer es uns fällt,
selbst kleine Schritte gegen den Klimawandel zu ergreifen -
dann mag man ermessen, was in Ninive geschah:
Eine Revolution.
Die Umkehr in Ninive ist allerdings keine Umkehr der Verhältnisse,
wie sie sonst bei Revolutionen üblich ist,
obwohl der König vom Thron steigt
und die Zeichen seiner Herrschaft ablegt.
Die Umkehr der Menschen in Ninive
besteht in der Hinwendung zu Gott.
Das ist viel radikaler als jede Revolution,
die bisher Gesellschaften umgewälzt hat.
Denn diese Revolutionen, so einschneidend sie auch waren,
haben nicht vermocht, die Menschen selbst zu ändern.
Sicher, es wurde versucht.
Aber je größer der Druck, alles Denken und Handeln gleichzuschalten,
desto größer der Widerstand.
Bei solchem Druck wachsen innere und äußere Distanz zu einem System,
das Anpassung, Uniformität bewirken will.
Bei der Umkehr zu Gott geschieht etwas anderes.
Gott ändert Menschen nicht aus Willkür,
nicht nach einer Ideologie oder einem Programm.
Nicht um seinet-, sondern um unseretwillen.
Um unserer Zukunft willen.
Dafür, dass wir, dass alle Menschen leben können.
Aus Liebe.
Wo Menschen von dieser Liebe Gottes ergriffen werden,
geben sie ihren inneren Vorbehalt, ihre innere und äußere Distanz auf.
Sie willigen ein in Gottes Willen.
„Dein Wille geschehe”, lehrt Jesus seine Jünger beten,
und so beten sie.
So beten auch wir.
Warum so radikal?
Warum reicht Gott nicht der kleine Finger,
warum will er gleich die ganze Hand,
den ganzen Menschen mit Haut und Haar?
Gott will eine Beziehung zu uns eingehen.
Eine Liebesbeziehung.
Wer in einer Liebesbeziehung lebt oder gelebt hat, weiß:
sie ist nur möglich, wenn man zur Veränderung bereit ist.
Denn Liebe verwandelt und verändert.
Eine Liebesbeziehung verändert beide Partner.
Und das ständig. Wenn eine:r aufhört, sich zu ändern,
zerbricht die Beziehung.
Gott hat sich uns zuliebe schon verändert:
„Gott reute das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.”
Und:
„Gott gab seinen einzigen Sohn,
damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” (Joh 3,16)
Gott bietet uns eine Beziehung an.
Aus Liebe zu uns.
Wenn wir sie eingehen, wird sie uns verändern.
In einer Beziehung mit Gott zu sein bedeutet,
verändert zu werden, ein neuer Mensch zu werden.
Danach gibt es keine Rückkehr zum Alten mehr:
„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur;
das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden!” (2.Kor 5,17)
Am Ende: Noch einmal Jona.
Jona, der um das Schauspiel der Zerstörung Ninives gebracht wurde.
Der sich deswegen aufregt.
Ganz aufgebracht ist er.
Von Anfang an hat er geahnt,
dass Gott ganz anders sein, ganz anders handeln würde,
als er selbst es sich wünschte und vorstellte.
„Ich wusste”, klagt er, „dass du gnädig, barmherzig,
langmütig und von großer Güte bist
und lässt dich des Übels gereuen.”
Jona ärgert sich über Gott,
der die Nineviten verschont.
Jona ärgert sich, weil Gott sich ändert.
Aber Gott ändert sich gar nicht.
Gott bleibt sich selbst treu in seiner Liebe zu uns, zu allen Menschen.
Liebe fordert Konsequenzen:
Was der Liebe entgegensteht, was sie verhindert,
kann nicht bleiben, wie es ist.
Es muss sich ändern.
Jona glaubt nicht an eine Veränderung.
Er will sich auch selbst nicht ändern.
Er will so bleiben, wie er ist.
Er will, dass alles so bleibt, wie es ist.
Er will, dass auch die Nineviten so bleiben, wie sie sind -
obwohl das ihren Untergang bedeutet.
Ein wenig, fürchte ich, sind auch wir manchmal wie Jona.
Können wir uns ergreifen lassen von Gottes Liebe?
Sie gilt allen Menschen, allen Geschöpfen,
unserer ganzen, wundervollen Welt.
Können wir umkehren und mit Gott in Beziehung bleiben?
Können wir uns verändern?
Gebe Gott, dass wir den Mut dazu finden.
Amen.