Predigt am 3.Sonntag nach Trinitatis, 3.7.2022, über Ezechiel 18
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”
Liebe Schwestern und Brüder,
in der Landwirtschaft war es seit Menschengedenken die Regel,
dass der älteste Sohn den Hof übernahm.
Damit war für diesen Sohn der Lebensweg vorgezeichnet.
Von Kindheit an war ihm bewusst:
Er würde eines Tages der Herr im Haus und auf dem Hof sein.
Und auch für seine Geschwister war der Weg vorgezeichnet:
Sie würden sich etwas anderes suchen müssen.
Die Mädchen eine „gute Partie”, wie man damals sagte;
die Jungen eine Anstellung oder eine Ausbildung,
wenn der Hof soviel abwarf.
Mein Urgroßonkel konnte sogar studieren;
meine Tante hat das Gymnasium besucht.
Mein Vater hätte das auch gern getan.
Aber er wurde auf die Landwirtschaftsschule geschickt,
denn er würde den Hof übernehmen;
dazu brauchte er weiter nichts zu lernen.
Mein Vater wäre gern etwas anderes geworden;
aber diese Wahl hatte er nicht.
„Was du ererbt von deinen Vätern,
erwirb es, um es zu besitzen.”
Der Hof, von einer Generation auf die nächste überkommen,
musste weitergeführt werden.
Im Grunde ist es noch heute so -
mit dem Unterschied, dass die Töchter
eine mehr und mehr gleichberechtigte Rolle einnehmen
und auch Hoferbin werden können.
Eltern beeinflussen die Lebensentscheidungen ihrer Kinder -
und manchmal entscheiden sie für sie, über ihre Köpfe hinweg.
Sie wollen das Beste für ihre Kinder.
Aber nicht immer ist das Beste, das die Eltern wollen,
auch das, was die Kinder als das Beste für sich ansehen.
Kinder haben manchmal ein Leben lang mit den Entscheidungen zu kämpfen,
die ihre Eltern für sie getroffen oder zu denen sie sie gedrängt haben.
Sein ganzes Leben lang war mein Vater unglücklich.
Aber der Wille seines Vaters und die Notwendigkeit,
den elterlichen Betrieb weiterzuführen, waren stärker.
Das ist nicht nur in der Landwirtschaft so;
auch Handwerks- und Industriebetriebe,
Hotels und Gaststätten müssen weitergeführt werden.
Diese Pflicht ist oft stärker als die Neigung,
einen ganz anderen Lebensweg einzuschlagen.
Hinterher sind dann manche unglücklich über ihr Schicksal
und geben ihren Eltern die Schuld daran.
Die Schuld der Eltern, besonders der Väter:
Niemals wurde sie so deutlich bewusst und nachgefragt
wie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Ende der 60er Jahre begannen in Westdeutschland
Kinder ihre Väter und Großväter zu fragen,
was sie gewusst hatten von den Gräueln und dem Massenmord,
was sie damals taten.
Und je mehr in den Folgejahren herauskam -
dass nicht nur Einzelne diese Verbrechen begangen
und davon gewusst hatten,
sondern dass alle davon gewusst
und nur die wenigsten gewagt hatten, Widerstand zu leisten -
desto größer wurde die Wut der Kinder auf ihre Väter,
wurden ihre Scham und Schuldgefühle.
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”
Wenn man als Westdeutsche:r in die Länder des damaligen Ostblocks reiste -
nach Polen, oder in die Sowjetunion -
konnte man den Gräueltaten, die Deutsche dort verübt hatten,
nicht aus dem Wege gehen.
Die Scham und das Gefühl der Schuld waren ständige Begleiter.
Auch in westlichen Ländern, in Frankreich oder den Niederlanden -
überall dort, wo Deutsche als Besatzungsmacht gewütet hatten -
begegneten eine:m Ablehnung oder sogar offene Feindschaft.
Die Erfahrungen, die die Kinder- und Enkelgeneration der Täter machte
und bis heute machen kann,
wenn sie die Augen vor den Gräueltaten und der Schuld nicht verschließt,
bestätigt die Wahrheit dieses Sprichwortes:
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”
Das wird auch für die Kinder und Enkel derer gelten,
die als Mitarbeiter oder Spitzel der Staatssicherheit
Freunde verraten, Lebensläufe durchkreuzt, Beziehungen zerstört haben
und in der damaligen DDR eine Atmosphäre des Misstrauens,
der Angst, der Verdächtigung schufen.
Das gilt für alle Kinder und Enkel von Vätern,
die Schuld auf sich geladen haben -
sei es im Apartheitsregime Südafrikas,
sei es im sogenannten „Islamischen Staat”
oder sei es bei den Soldaten, die am Überfall auf die Ukraine beteiligt sind.
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”
Diesen Zusammenhang hebt Gott auf:
„So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr:
Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen!”
Ja, kann man denn eine Erfahrung,
die viele von uns gemacht haben oder machen,
einfach dadurch aufheben, dass man sagt:
Das soll nicht mehr so sein!?
„Man” kann es nicht. Aber Gott kann es.
Schuld existiert nicht absolut -
sonst könnte sie nicht geleugnet werden.
Sonst könnten so viele alte und neue Nazis nicht behaupten,
das sei alles nicht so gewesen.
Um Schuld festzustellen, braucht es einen Dritten,
der sich für die Opfer einsetzt und die Täter benennt.
Gott ist dieser Dritte.
Vor Gott verantworten wir unser Tun und unser Unterlassen.
Daneben gibt es den Staat mit seinen Gesetzen.
Auch er ist ein Dritter,
der die Opfer schützt und die Täter verfolgt.
Aber er kann das nur tun,
wo eine Tat angezeigt, wo ein Täter erwischt wird.
Doch in einem Unrechtsstaat,
der die Verfolgung und Ermordung von Menschen legalisiert,
Bespitzelung und Denuntiation betreibt,
gibt es keine Verfolgung von Unrecht.
Gott aber kann man nicht entkommen.
Gott ahndet die Taten nicht, wie der Staat es tut,
verhaftet niemanden, sperrt niemanden ein.
Aber das Gerichtsverfahren findet trotzdem statt. Jeden Tag.
Jeden Tag überführt uns unser Gewissen,
wenn wir schuldig geworden sind.
Unser Gewissen überführt uns, aber nur uns, niemand anderen.
Vor Gott steht jede und jeder allein.
Deshalb zählt für Gott nur, was wir getan haben.
Nicht, was unsere Eltern oder unsere Vorfahren taten.
Gott urteilt über unser Handeln;
er verurteilt uns nicht dafür, dass wir Deutsche,
dass wir die Kinder oder Enkel von Tätern sind.
Für Gott zählt auch nur, was jetzt geschieht.
Was gestern war, ist vergessen, wenn wir es bereuen.
Wenn wir Gott um Vergebung bitten,
streicht er aus, was gewesen ist, was wir getan haben.
Es soll nicht mehr über uns bestimmen.
Es soll nicht mehr bestimmen, wer wir sind.
Für Gott ist immer Heute, ist immer Jetzt.
Jetzt entscheidet sich, wer wir sind -
und wer wir sein wollen.
Und wenn es nach Gott geht, sind wir gut,
stehen wir auf der guten Seite.
Denn Gott liebt uns über alle Maßen.
Und deshalb sieht er, wer wir wirklich sind
und wer wir sein könnten.
Sieht unsere Schönheit, unsere Stärken,
unsere Hoffnungen und Träume für uns und unsere Welt,
unser gutes Herz und unseren guten Willen.
So hebt Gott nicht nur den alten Spruch auf
von den Vätern, die saure Trauben gegessen haben.
Gott hebt auch auf, was wir als Lasten unseres Elternhauses,
unserer Erziehung und Prägung mit uns herumschleppen.
Unsere Eltern, Lehrer:innen und Ausbilder:innen
haben uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind.
Sie haben uns viel Gutes getan, viel Gutes mitgegeben.
Und sie haben uns manches zugemutet und aufgebürdet.
Das können wir nicht mehr ändern.
Aber das, was war, muss nicht darüber bestimmen,
wer wir heute sind und morgen sein werden.
Wir sind nicht dazu verpflichtet zu bleiben, wer wir sind.
Wir haben das Recht, ein:e andere:r zu werden:
Ein Mensch nach Gottes Willen:
Frei. Glücklich. Voller Liebe und Mitgefühl
den Mitmenschen und Mitgeschöpfen zugewandt.
Wir sind frei, zu den schönen, begabten,
freundlichen und wunderbaren Menschen zu werden,
die wir in Gottes Augen schon sind.
Heute ist der Tag dazu.
Heute ist der erste Tag unseres neuen Lebens.
Amen.