Predigt am Sonntag Trinitatis, 12. Juni 2022, über Genesis 27.32:
Jakob und Esau waren Zwillinge.
Isaak, ihr Vater, hatte Esau am liebsten.
Rebekka, ihre Mutter, hatte Jakob am liebsten.
Als Isaak alt geworden war, konnte er nicht mehr sehen.
Er wusste, er würde bald sterben.
Deshalb wollte er Esau, seinen Lieblingssohn, segnen.
Rebekka hörte das.
Als Esau weggegangen war,
sagte sie zu Jakob:
Zieh dir Esaus Kleider an und geh zu deinem Vater,
damit er dich segnet.
Jakob zog sich Esaus Kleidung an und ging zu seinem Vater.
Als Isaak den Duft seiner Kleider roch,
segnete er ihn und sagte:
Ah! Der Duft meines Sohnes ist wie der Duft eines Feldes,
das der Herr gesegnet hat.
Gott soll dir Tau vom Himmel schenken
und deinem Boden Fruchtbarkeit,
Korn und Wein im Überfluss!
Völker sollen dir dienen
und Nationen sich vor dir niederwerfen.
Du sollst über deine Brüder herrschen,
und die Söhne deiner Mutter sollen sich vor dir niederwerfen.
Wer dich verflucht, ist selbst verflucht,
und wer dich segnet, ist gesegnet.
Nachdem Isaak Jakob gesegnet hatte,
weil er dachte, es wäre Esau gewesen,
kam Esau selbst zurück
und ging zu seinem Vater,
um sich segnen zu lassen.
Sein Vater erschrak. Er hatte seinen Segen Jakob gegeben.
Esau fragte: Hast du für mich denn keinen Segen mehr übrig?
Isaak sagte zu Esau:
Ich habe Jakob als Herrscher über dich eingesetzt.
Alle seine Brüder habe ich ihm als Knechte übergeben.
Mit Korn und Wein habe ich ihn versorgt.
Was kann ich da noch für dich tun, mein Sohn?
Esau fragte ihn: Mein Vater, hast du denn nur einen einzigen Segen?
Segne auch mich, mein Vater! Dann weinte Esau.
Da sagte sein Vater Isaak:
Fern von guten Feldern wirst du wohnen
und fern vom Tau, der vom Himmel fällt.
Von deinem Schwert wirst du leben
und deinem Bruder wirst du dienen.
Esau hasste Jakob,weil sein Vater ihn gesegnet hatte.
Am liebsten hätte er ihn umgebracht.
Aus Angst vor Esaus Rache lief Jakob weg.
Er versteckte sich bei seinem Onkel in einem anderen Land.
Nach vielen, vielen Jahren beschloss er,
nach Hause zurück zu kehren.
Aber er hatte immer noch große Angst vor Esau.
In der Nacht, bevor er seinem Bruder begegnen sollte,
war Jakob ganz allein.
Plötzlich war da jemand,
der mit ihm kämpfte.
Die ganze Nacht kämpfte er mit ihm, bis der Morgen anbrach.
Aber er sah, dass er Jakob nicht besiegen konnte.
Da packte er Jakob am Hüftgelenk,
sodass es beim Ringen ausgerenkt wurde.
Dabei sagte er: Lass mich los! Denn der Tag bricht an.
Jakob entgegnete: Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.
Der andere fragte Jakob: Wie heißt du?
Er antwortete: Jakob.
Da sagte der andere: Von nun an sollst du nicht mehr Jakob heißen,
sondern Israel, ›Gotteskämpfer‹.
Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft
und bist Sieger geblieben.
Und er segnete ihn dort.
Liebe Gemeinde,
wie gut, wenn man ein Einzelkind ist!
Als Einzelkind bekommt man die volle Zuwendung,
die ungeteilte Liebe von Mutter und Vater.
Und oft auch von den Großeltern,
wenn man das erste Enkelkind in der Familie ist.
Man wird umsorgt und verwöhnt,
bekommt viel Aufmerksamkeit und viel Lob.
Hat man mehrere Geschwister,
muss man sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe
mit anderen teilen.
Natürlich lieben Eltern alle ihre Kinder.
Aber sie lieben nicht alle gleich.
Alle Menschen sind verschieden,
das sind sie schon als Kinder.
Ein Kind ist ruhig und verschmust,
ein anderes ist wild, muss toben und schreien -
und dabei geht manchmal etwas zu Bruch.
Ein Kind ist gut in der Schule,
ist fleißig und aufmerksam;
ein anderes träumt vor sich hin,
spielt lieber am Computer, als die Hausaufgaben zu machen.
So unterschiedlich waren auch die Zwillinge Jakob und Esau
aus der Geschichte, die wir gerade gehört haben.
Esau war ein wilder Kerl, der gern auf die Jagd ging.
Er konnte mit Waffen umgehen, ging keinem Streit aus dem Weg
und brachte seinem Vater oft ein Wildbret mit,
das er für ihn grillte - oh, wie Isaak das schmeckte!
Esau war ganz nach Isaaks Geschmack;
ein Sohn, wie er ihn sich immer gewünscht hatte.
Jakob war, man muss es wohl so sagen,
ein Muttersöhnchen.
Er ging Raufereien und den wilden Spielen der anderen Jungs aus dem Weg,
saß lieber zuhause und las oder übte auf seiner Flöte
und half der Mutter bei der Hausarbeit und auf dem Hof.
Rebekka war jeden Tag glücklich über ihren Sohn Jakob.
Jakob, der Liebling seiner Mutter,
und Esau, der ganze Stolz seines Vaters -
warum kann nur einer von beiden den Segen bekommen?
Zuerst einmal ist es bemerkenswert,
dass es zwei Arten von Segen gibt:
Den Segen des Vaters und den Segen Gottes.
Es ist der Segen Isaaks, den es nur einmal gibt.
Denn nur einer seiner beiden Söhne ist so,
wie sein Vater es sich wünscht.
Das kennen manche von uns auch:
Als Heranwachsende träumen wir von dem,
was wir einmal werden wollen.
Auch unsere Eltern haben Pläne für uns,
Vorstellungen, was das Richtige, das Beste für uns ist.
Nicht selten passen unsere Träume
und die Pläne unserer Eltern nicht zusammen.
Dann gibt es ein Kräftemessen, ein Ringen, wer sich durchsetzt,
oder sogar einen Streit.
Der Streit endet im schlimmsten Fall damit,
dass das Kind seinen Eltern nachgibt und seinen Traum beerdigt -
oder dass es das Elternhaus verlässt,
ohne dass sich die streitenden Parteien ausgesöhnt haben.
So oder so, am schlimmsten ist dieser Streit für das Kind.
Denn was sich jedes Kind wünscht,
was jedes Kind braucht ist,
dass die Eltern stolz auf ihr Kind sind,
einverstanden mit seinen Plänen,
und es darin unterstützen und fördern.
Wenn die Eltern aber nicht ihren Segen geben
zu der Entscheidung ihres Kindes, fehlt das Wichtigste.
Der fehlende Segen der Eltern macht es so schwer,
seinen eigenen Weg zu gehen,
dass viele lieber nachgeben,
statt das Wohlwollen, die Unterstützung
und die Liebe der Eltern zu verlieren.
In der Geschichte hätte Jakob den Segen seines Vaters nie bekommen -
er war so ganz anders, als Isaak sich seinen Sohn wünschte.
Deshalb benutzte er eine List.
Aber der mit List erworbene Segen nützt Jakob nichts.
Er muss sein Elternhaus dennoch verlassen.
Was also hat Jakob davon, dass er sich den Segen erschlichen hat?
Jakob hat sich durchgesetzt.
Er hat seinem Vater nicht nachgegeben,
der ein anderes Leben für ihn wollte.
Jakob blieb bei dem, was er für richtig hielt,
was er sich als Ziel seines Lebensweges vorgenommen hatte.
Das war die erste Voraussetzung dafür,
dass aus Jakob Israel werden konnte,
der Stammvater des Volkes Israel.
Die andere Voraussetzung war sein Ringen mit Gott.
In Jakobs Bruder Esau lebte sein Vater weiter,
der Esau so bewundert und geliebt hatte.
In ihm lebte auch der Betrug weiter, den Jakob begangen hatte,
um an Isaaks Segen zu kommen.
Jakob möchte sich aussöhnen mit seiner Vergangenheit,
aussöhnen mit seinem Bruder,
um wieder in Frieden und ohne Angst leben zu können.
Aber wie wird sein Bruder reagieren, wenn er ihm gegenübertritt?
Wird er ihm immer noch böse sein,
wird er ihm gar etwas antun?
In der Nacht vor der Begegnung mit Esau
ringt Jakob mit seiner Angst.
Er ringt mit sich: War es richtig,
dass ich mir damals den Segen erschlich?
War es richtig, dass ich meinen Weg gegangen bin,
meine Familie verlassen habe?
Und er ringt mit Gott, dem er die selben Fragen stellt.
Er ringt leibhaftig mit ihm und lässt nicht locker.
Er will von Gott hören, was sein Vater ihm nicht sagen konnte:
Ich bin stolz auf dich.
Er will von Gott haben, was sein Vater ihm nicht geben wollte:
seinen Segen.
Die Zustimmung zu seiner Entscheidung,
das Wohlwollen, die Unterstützung.
Und er bekommt den Segen.
Den Segen der Eltern erhält nur der,
der dem Willen der Eltern folge leistet.
Es sei denn, die Eltern wären so großzügig und weitherzig,
ihren Kindern die Entscheidung über ihren Lebensweg selbst zu überlassen
und sie auch dann zu unterstützen und zu ihnen zu stehen,
wenn sie andere Wege gehen als die Eltern.
Gottes Segen ist für alle da.
Auch Gott hat einen Plan für uns -
dass wir glücklich sein und andere Menschen glücklich machen sollen.
Aber weil wir Menschen alle verschieden sind
und weil Gott uns alle gleich lieb hat, ohne Unterschied,
überlässt er es uns, wie wir dieses Ziel erreichen.
Was Gott aber von uns will ist,
dass wir zu uns selbst stehen können
und zu der Entscheidung, die wir für unser Leben getroffen haben.
Darum müssen wir manchmal ringen -
mit uns selbst, und auch mit Gott.
Am Ende aber steht die Gewissheit,
dass Gott mit uns und unserer Entscheidung einverstanden ist
und dass er stolz auf uns ist -
so stolz, wie man nur sein kann.