Sonntag, 10. Juli 2022

Kann denn Liebe Sünde sein?

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2022, über Johannes 8,3-11


Liebe Schwestern und Brüder,


die Geschichte von der Ehebrecherin klingt wie ein Kriminalfall -

wenn auch kein besonders spannender.

Weder ist das Delikt, der Ehebruch, außergewöhnlich,

noch gibt der Tathergang Rätsel auf.

Die Frau wurde schließlich auf frischer Tat ertappt.

Ich möchte trotzdem mit Ihnen den Fall noch einmal durchgehen.

Es gibt da nämlich einige Details, die nicht stimmen

und diesen Fall nicht so eindeutig machen,

wie er auf den ersten Blick erscheint.


Die erste Ungereimtheit, die einen geradezu anspringt:

Wenn die Frau auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde,

wo ist dann ihr Liebhaber?

Er war am Ehebruch beteiligt,

er muss noch da gewesen sein, als die Frau verhaftet wurde,

aber nur sie wird vorgeführt.

Dabei müsste auch er in der Mitte stehen.

Denn das Gebot, auf das sich die Ankläger berufen, lautet:


„Wenn jemand dabei ergriffen wird,

dass er bei einer Frau schläft, die einen Ehemann hat,

so sollen sie beide sterben,

der Mann und die Frau, bei der er geschlafen hat” (5.Mose 22,22).


Hier wird sogar der Mann an erster Stelle genannt.

Aber keine Spur von ihm;

vom Liebhaber ist nicht einmal die Rede.

Dabei kann man eine Ehe nicht allein brechen.


Die zweite Ungereimtheit folgt aus der ersten:

Wo ist der Ehemann?

Er ist der einzige, der überhaupt Anklage erheben könnte,

denn er ist, wenn man so will, der Geschädigte.

Der Ehemann taucht aber nicht auf,

von ihm ist mit keinem Wort die Rede.

Statt seiner haben andere die Anklage übernommen.

In dieser Geschichte werden sie Jesus als Gegner gegenübergestellt.

Pharisäer und Schriftgelehrte sind die Provokateure und Ankläger.

Sie sind aber nicht so schlecht,

wie sie in dieser Geschichte dargestellt werden.

Sie vertreten nur eine andere Auffassung als Jesus.


Hier geht es gar nicht um den Ehebruch.

Nicht die Ehebrecherin wird angeklagt, sondern Jesus.

Was könnte man Jesus vorwerfen?

Seine sehr eigene Auslegung der Tora, der Gebote Gottes:

Dass er Kranke am Sabbat heilt,

seinen Jüngern erlaubt, am Sabbat Ähren zu raufen -

Arbeiten, die an Gottes Ruhetag verboten sind.

Für Jesus geht die liebevolle Hinwendung Gottes zu den Menschen

über die Gebote, die menschliches Handeln leiten sollen.


Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind da gänzlich anderer Meinung.

Ihre Maxime lautet:

Ein gläubiger Mensch muss sich jederzeit

nach Gottes Willen richten und sein Leben daran orientieren -

auch, wenn das Mühe macht und Einschränkungen erfordert.


Allerdings gibt es unter den Pharisäern und Schriftgelehrten

Auseinandersetzungen darüber,

wie wörtlich die Gebote zu verstehen sind

und wie man sie so befolgt, dass man ihnen gerecht wird

und sie nicht durch unsinniges Handeln ad absurdum führt.

Diese unterschiedlichen Meinungen bilden den Grundstock dessen,

was dann als „Talmud” gesammelt wird.


Wie wörtlich ist ein Gebot oder Verbot zu nehmen?

Sehen wir uns dazu das Verbot des Ehebruchs an:

Hätte man dieses Verbot wörtlich genommen,

hätte man jede und jeden,

der beim Ehebruch erwischt wurde, gesteinigt,

wäre die Weltbevölkerung heute erheblich kleiner.


Ehebruch, oft als „Seitensprung” oder „Kavaliersdelikt” verharmlost,

ist eine ernste Angelegenheit -

jedenfalls für die oder den,

der der Leidtragende, der „Gehörnte” ist.

Er zerstört die Illusion,

dass man für die Partnerin oder den Partner einzigartig ist.

Er zerstört das Vertrauen, das zwischen einem Paar bestand.

Der Ehebruch ist aber nicht die Ursache,

sondern die Folge einer Krise in der Beziehung.

Ein Fall für den Familientherapeuten oder, schlimmstenfalls,

für den Scheidungsanwalt.

Kein Kapitalverbrechen, das öffentlich angeklagt werden müsste,

noch dazu von Leuten, die das gar nichts angeht.


Und schließlich ist Ehebruch so alltäglich und so allgemein verbreitet,

dass man nicht dagegen ankäme, selbst, wenn man es wollte.

Verbote helfen da gar nichts - im Gegenteil:

Je verbotener eine Sache, desto reizvoller wird sie.

Die Untreue, der Ehebruch ist eine Möglichkeit,

die in uns allen schlummert.

Wer jetzt entrüstet denkt: Aber ich doch nicht!

Ich würde so etwas niemals tun!,

hat nur noch nie vor dieser Versuchung gestanden.

Deshalb sagt Jesus:


„Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14):

»Du sollst nicht ehebrechen.«

Ich aber sage euch:

Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren,

der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.” (Matthäus 5,27f)


Wenn das stimmt,

dann wäre die einzige Möglichkeit, Ehebruch zu verhindern,

die Burka für alle, Frauen und Männer.

Aber natürlich ist das keine Lösung.

Jesus will das Flirten nicht verbieten.

Es ist nicht falsch, nicht verwerflich,

sich an der Schönheit eines anderen Menschen zu erfreuen.

Im Gegenteil: Wir leben davon,

uns in den Augen anderer gespiegelt zu sehen.

Es erinnert uns daran, wie liebevoll Gott uns ansieht.


Indem Jesus die Schwelle dafür, was Ehebruch ist,

so sehr herabsenkt, will er deutlich machen:

Man kann Begehren nicht verhindern,

man kann Lust nicht verbieten.

Sie sind nicht schlimm, sie sind nicht „Sünde”,

sondern gehören zu unserem Menschsein.

Dass wir einander begehren, gerade das macht uns zu Menschen.


Das heißt nicht, dass wir jetzt alle fröhlich drauflos …

- Sie wissen schon.

Es bleibt dabei: „Du sollst nicht ehebrechen.”

Doch dieses Gebot erfüllt man nicht,

indem man so tut, als hätte man als einzige:r

in der gesamten Menschheit keinen Unterleib.


Ich denke, auch die Gegner Jesu wissen das.

Trotzdem zerren sie die Frau ins Licht der Öffentlichkeit.

Trotzdem suchen sie die Auseinandersetzung mit Jesus.

Es geht in diesem Streit um eine Verwechslung,

die immer wieder passiert, bis heute.

Manchmal unbewusst, aber meistens sehr bewusst:

Die Verwechslung von Sünde und moralischer Verfehlung.


Sünde bedeutet, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist zerstört.

Wer Gott Willen ignoriert oder sich bewusst dagegen entscheidet,

wendet sich von Gott ab.

Das bezeichnet die Bibel mit dem Wort „Sünde”.

Eine moralische Verfehlung dagegen

ist die Störung der Beziehung von Menschen untereinander.

Diese Beziehung kann schon gestört sein,

wenn jemand anders lebt, anders liebt als die meisten.

Denn was moralisch richtig oder falsch ist,

das fällt nicht vom Himmel, das steht auch nicht in der Bibel,

sondern es wird von denen festgelegt, die dazu die Macht haben.

Moralisch richtiges oder falsches Handeln ist immer eine Machtfrage.


Mit dem Glauben hat es nichts zu tun,

welchen Menschen man liebt,

welches Geschlecht man hat - oder ob man keins hat.

Was im Schlafzimmer passiert, ist reine Privatsache.

Aber nichts interessiert andere so sehr wie das,

was im Privaten geschieht - vor allem,

wenn der Verdacht besteht, man sei anders als die anderen.


Um angebliches sexuelles Fehlverhalten anzukreiden,

beruft man sich bis heute gern auf die Bibel.

Denn da steht es ja, schwarz auf weiß:

„Du sollst nicht ehebrechen.”

Da steht auch:

„Du sollst den Fremdling nicht bedrücken” (2.Mose 22,20).

Da steht auch:

„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.

Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen” (3.Mose 19,13).

Aber so etwas überliest man leicht.


Und wenn Kinder im Sahel zu Dutzenden, zu Hunderten vor Hunger sterben,

ist das nicht so schlimm und verwerflich wie eine Abtreibung.

Weil diese Kinder ja nur durch Unterlassung getötet wurden -

indem man sie verhungern ließ -

und nicht vorsätzlich.

Wobei man sich schon fragen kann, ob nicht Vorsatz vorliegt.

Denn jede:r weiß, dass es im Sahel nichts zu Essen gibt,

dass Kinder und Erwachsene vor Hunger sterben,

wenn wir ihnen nicht helfen.


Warum ist es so viel spannender,

das private Verhalten anderer zu beäugen und zu verurteilen,

als Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit oder Umweltzerstörung anzuklagen?

Weil es immer um Macht geht.

Macht über andere.

Macht zu bestimmen, was richtig ist und falsch,

was man tun darf und was nicht.

Wer Unrecht beseitigt,

wer Hungernde sättigt,

wer sich gegen Unmenschlichkeit wendet,

gewinnt keine Macht, im Gegenteil:

Er, sie ermächtigt andere, sich Recht zu verschaffen,

sich zu wehren, sich ihren Teil vom Kuchen einzufordern.

Wer dagegen andere nach einem Maßstab beurteilt,

erhebt sich über sie, übt Macht über sie aus.


Das passiert auch in unserer Geschichte.

Die Ankläger zeigen ihre Macht dadurch,

dass sie die Frau ins Licht der Öffentlichkeit zerren,

sie bloßstellen und damit erniedrigen.

Jesus lässt sich auf diesen Machtkampf ein.

Er gibt eine im Grunde erschreckende Antwort:

„Wer von euch ohne Sünde ist,

der werfe den ersten Stein auf sie”.

Erschreckend, weil er damit zur Steinigung geradezu auffordert.

Die Frau in der Mitte muss in diesem Moment

alle Hoffnung verloren haben, wenn sie noch welche hatte.

Jesus hat gerade das Todesurteil über sie gesprochen.


Aber Jesus weiß, was er tut.

Denn indem er es so sagt:

„Wer von euch ohne Sünde ist”,

konfrontiert er die Ankläger damit,

dass man als Mensch eben nicht nicht sündigen kann.

Er konfrontiert die Ankläger mit ihrem besseren Wissen.

Wenn sie jetzt noch einen Stein werfen,

würden sie wider besseres Wissen handeln,

würden sie heucheln und sich nicht nur moralisch verfehlen,

sondern sich tatsächlich von Gott trennen.


Mit seiner Antwort stellt Jesus die Ankläger bloß:

Es ging ihnen gar nicht um das Gebot.

Es ging ihnen um die Macht,

andere zu ihrer Auffassung von Anstand und Recht zu zwingen.

Sie benutzten das Gebot nur, um Jesus auszutricksen.

Sie wussten, dass er Gnade vor Recht ergehen lassen

und damit Gottes Gebot übertreten würde.

Mit seiner überraschenden Antwort zeigt Jesus,

dass Gott von uns nicht Unmenschliches verlangt.

Sein Gebot ist nicht dazu da,

andere Menschen danach zu beurteilen und zu verurteilen.


Die Geschichte ist wirklich ein Krimi -

in einem anderen Sinn, als es zunächst schien:

Sie schildert einen Machtkampf zwischen Leuten,

die mit Hilfe der Gebote Macht über andere ausüben wollen,

und Jesus, der Menschen dazu ermächtigen will,

sich Gottes vergebender Liebe anzuvertrauen

und dadurch seine Gebote zu befolgen.

Ein Machtkampf, der heute immer noch ausgetragen wird.


Darum ist diese Geschichte so notwendig.

Sie erinnert uns daran,

dass Gottes Wille nicht dazu da ist,

dass wir uns zu Richter:innen über andere erheben.

Gottes Gebote wollen Leben retten und erhalten.

Deshalb steht am Ende der Geschichte der Freispruch

ohne Bedingungen und Hintertüren.

Ein Freispruch, der auch uns gilt

und uns zu einem Leben nach Gottes Willen ermutigt.