Samstag, 17. September 2022

gut gebrüllt

Ansprache zur Orgeleinweihung am 14. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2022, über Jesaja 12,1-6:

Ernst Barlach, Singender Mann

Zu jener Zeit wirst du sagen:

Ich preise dich, Gott! Als du mir zürntest,
wendete sich dein Zorn und du hast mich getröstet.
Sieh, Gott ist meine Hilfe.
Ich vertraue und fürchte mich nicht,
denn meine Kraft und Stärke ist Gott, der Herr,
und er wurde mir zur Hilfe.
Und ihr werdet Wasser schöpfen mit Jubel
aus den Quellen der Hilfe.
Und ihr werdet sagen zu jener Zeit:
Preist Gott, ruft ihn mit seinem Namen an.
Tut kund den Völkern seine Taten!
Bekennt, wie erhaben sein Name ist!
Singt Gott, weil er Erhabenes tut.
Bekannt sei dies bei allen Völkern.
Kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions,
denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.


Liebe Schwestern und Brüder,

„jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion,
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!”
,

heißt es in der Lutherbibel. Wenn man sich den hebräischen Text anschaut, wird es dort drastischer formuliert:

„Kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions!”

Das Wort, das ich mit „kreischen” wiedergegeben habe, kann auch „wiehern” bedeuten. Das gibt einen Hinweis darauf, wie wir uns Tonhöhe und Lautstärke dieses Kreischens vorzustellen haben. Ein Gekreisch, das in den Ohren gellt - soll das zum Lobe Gottes dienen?

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung für das heutige Wochenende stand über die Komikerin Hella von Sinnen geschrieben: Sie „lacht so gellend, dass man schon mal zur Fernbedienung greift, um leiser zu drehen.”

Damit nicht der Eindruck entsteht, nur Frauen würden einen Jubel entfachen, der die Ohren strapaziert, sei an die Fußballstadien erinnert, in denen vor allem Männer aus vollem Halse brüllen. Das kommt auch in geistlichen Umgebungen vor: In einem Buch über die Klöster des Mittelalters las ich, man dürfe sich den Gesang der Mönche damals nicht so gesetzt und melodisch vorstellen, wie er heute erklingt. Früher waren die Mönche zahlreicher, und es waren vor allem junge Männer in der Blüte ihrer Kraft. Wenn sie sangen, taten sie es aus voller Kehle. Das klang eher nach dem Gebrüll von Stieren als nach Gesang. Auch im Pfarrkonvent schließlich schweigen die Kolleginnen oft, wenn die Pastoren zu singen anfangen, weil sie bei dem Lärm ihr eigenes Wort nicht verstehen.

Durch die Zeiten hindurch, von Jesaja bis heute, wird das Lob Gottes nicht nur wohlklingend  dargebracht, sondern manchmal auch laut. Geradezu ohrenbetäubend. Was uns unmittelbar zur Orgel führt. Die kann nicht nur leise, sondern auch mächtig laut gespielt werden - so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Im Unterschied zum Gekreisch bei Jesaja, zum Gebrüll der Mönche und Pastoren klingt die Orgel auch laut immer noch sehr schön - aber eben auch sehr laut.

Was hat Lautstärke beim Lob Gottes zu suchen? Sollte man Gott nicht gesittet und gemessen loben? Schließlich kündigte Gott dem Elia sein Erscheinen nicht mit Sturmgebraus, Donner oder Erdbeben an, sondern mit einem sanften Säuseln. Sollte da nicht auch unser Gesang, unser Orgelspiel einem sanften Säuseln gleichen? 

Doch wer würde bei einem sanften Säuseln darauf kommen, dass hier gerade Gott gelobt wird? Freude, wenn sie einen Menschen ganz erfüllt, ist überschwänglich. Und im Überschwang wird es schon einmal laut. Was uns erfüllt und bewegt, froh und glücklich macht, will heraus, muss sich äußern. Nicht durch Wohlklang, durch Lautstärke vor allem. Hella von Sinnen kreischt nicht, um die Fernsehzuschauer zu ärgern, damit sie zu ihren Fernbedienungen greifen. Sondern weil es aus ihr herausplatzt. Sie kann sich überschwänglich freuen.

Und wir?
Wann haben wir zuletzt vor Freude gekreischt und gewiehert vor Lachen? Wann waren wir so übervoll Glück, dass wir es herausbrüllen mussten, sonst hätte es uns zerrissen? Ich vermute, bei den meisten  von uns ist das lange her. Die meisten würden, wenn man sie fragte, sagen, dass sie nichts zu lachen hätten und dass sie ein Glück, das eine:n bis zum Platzen erfüllt, schon lange nicht mehr erlebt hätten.

Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht haben Gesetztheit und Schamgefühl uns den Überschwang nur ausgetrieben. Man freut sich nur noch verhalten. Sein Glück genießt man gesetzt und gediegen. Dadurch wird die Freude viel kleiner, als sie in Wahrheit ist. 

Darum gibt es die Orgel mit ihren vielen Registern und ihrer gewaltigen Lautstärke. Die Orgel lehrt uns den Überschwang. Sie lehrt uns, unsere Freude, unser Glück herauszulassen. Sie erfüllt uns mit schönen Klängen, mit wunderbarer Musik. Das alles nicht als Selbstzweck, wie man in ein Rockkonzert geht, um in der Musik zu baden und zu versinken; wie man beim Feiern einen über den Durst trinkt, um endlich einmal wieder aus sich heraus zu gehen. Der alles erfüllende Klang der Orgel, unser lautes Singen bringen unsere Freude über Gott zum Ausdruck. Über Gott, der, wie es bei Jesaja heißt, unsere Hilfe ist, unsere Kraft und Stärke. Wie sollte man von der Kraft und Stärke Gottes mit leisen, verhaltenen Tönen singen?

Und wenn so laut und jubelnd gesungen und musiziert wird, geschieht es, dass wir von diesem Lob ergriffen werden. Wir spüren, wie viel Grund zur Freude und zum Lob wir haben. Trotz alledem. Trotz der Angst, der Sorgen, die wir so oft empfinden. Trotz allem, was uns belastet und beschwert. Trotz Leid und Tod. Die Fülle, der Überschwang der Musik überzeugen uns, mehr, als Worte es vermöchten, dass Gott da ist und Wunder tut: Das Wunder des Lebens, jeden Tag neu. Das Wunder der Vergebung und des neuen Anfangs. Das Wunder der Liebe.

Darum muss die Organist:in manchmal alle Register ziehen. Darum müssen wir manchmal kreischen oder brüllen, statt lieblich und schön zu singen: Damit die Freude herauskommt und spürbar wird, für uns und andere. Die Freude über Gott, der uns dieses seltsame, zerbrechliche, wunderbare Leben schenkt, jeden Tag neu. Und ein für allemal am Ende aller Tage. 

Darum „kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions,
denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.”

Amen.