Donnerstag, 29. September 2022

Werden wie die Kinder

Ansprache zur Michaelisandacht am 29. September 2022 über Matthäus 18,1-6.10

Altar des Schweriner Domes, über dem ein Baldachin aus weißer Baumwolle gespannt ist, auf den der „Vergessliche Engel” von Paul Klee gedruckt ist.


Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man klein ist, entgeht einem Vieles. Als kleines Kind kann man noch nicht über die Ladentheke schauen. An das, was oben im Regal liegt, kommt man auch nicht heran; man kann es nicht einmal sehen. Weshalb Eltern alles Zerbrechliche und Gefährliche in die Höhe verbannen. Und wenn irgendwo was los ist, bekommen es die Kleinen nicht mit, weil die Großen ihnen die Sicht versperren. Es sei denn, eine Große nimmt eine Kleine auf ihre Schultern, damit sie etwas sehen kann.

Aus Kindersicht wirken wir Erwachsenen wie Bäume. Wir werfen lange Schatten, die den Kleinen das Licht und die Sicht nehmen. Als ausgleichende Gerechtigkeit sind deshalb ihre Engel die größten und höchsten. Sie überragen alle anderen Engel, sodass sie Gott direkt ins Gesicht sehen können.

„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet,
kommt ihr gar nicht erst ins Himmelreich hinein.”

Auf die Frage der Jünger nach der Rangordnung im Himmel antwortet Jesus mit der Voraussetzung, die erfüllen muss, wer hinein kommen will, zu den Engeln und zu Gott. Aber was soll das heißen, „werden wie die Kinder”, und wie soll das gehen?

Wir können, wie Nikodemus einwendet (Joh 3,4), doch nicht wieder in den Bauch unserer Mutter zurück krabbeln! Ganz abgesehen davon, dass weder sie noch wir das wollten. Es kann also nicht darum gehen, physisch oder psychisch wieder ein Kind zu werden.

Jesus verlangt auch nicht, dass wir uns kindisch benehmen sollen. Zumal das, was Erwachsene unter kindlichem Verhalten verstehen, Kindern oft nur peinlich ist.

Dann kann „werden wie die Kinder” nur bedeuten, den Größenvorteil der Erwachsenen aufzugeben. Sich selbst erniedrigen, sich klein machen. Nicht nur im wörtlichen Sinn, dass man sich hinkniet, um mit Kindern auf Augenhöhe zu sein. Sondern vor allem im Verzicht auf die Vorteile, die Größe, Kraft, Können und Erfahrung, kurz: die das Erwachsensein bieten.

Auf diese Vorteile zu verzichten bedeutet, auf Macht zu verzichten. Wer mit Kindern so spielen will, dass sie daran Freude haben, wird nie seine ganze Kraft, nie sein ganzes Können einsetzen. Wird auch das Kind nicht spüren lassen, dass man es nur gewinnen ließ, weil man ja sooo viel größer und klüger ist. Wird sich vielmehr um Fairness bemühen. Dem Kind die Chance geben, es mit seinem  Können, seiner Kraft mit einem Erwachsenen aufzunehmen und ihn vielleicht sogar zu besiegen.

Der Verzicht, die eigene Macht und Stärke auszuspielen, führt in Abhängigkeit - so, wie Kinder von ihren Eltern abhängig sind. Dieser Verzicht hat zur Folge, dass man sich in die Hände anderer Menschen begibt. Dass man ihnen in gewisser Weise sein Leben anvertraut. Jesus hat das getan. Und jedes Jahr an Karfreitag erleben wir, welch furchtbare Folgen es hatte. Das ist kein Weg, den wir gehen könnten.

Deshalb definiert der Theologe Friedrich Schleiermacher den Glauben als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit.” Man versetzt sich, sozusagen, in die Lage eines Kindes hinein: Wie ein Kind von seinen Eltern abhängig ist, die es versorgen, beschützen und den Weg ins Leben führen, so abhängig sind wir von Gott. Diese Abhängigkeit besteht nicht in materiellen Dingen - in der Regel können wir ganz gut für uns selbst sorgen.Doch indem man sich eingesteht, dass man trotzdem nicht Herr des eigenen Lebens ist, wirkt das Gefühl der Abhängigkeit auf unser Verhalten zurück: Wir werden dankbar. Können uns bescheiden und uns Gottes Willen unterordnen: „dein Wille geschehe.”

Jesus sagt aber nicht: „Wenn ihr euch nicht fühlt wie die Kinder”, sondern: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder.” Jesus mutet uns zu, dass wir uns tatsächlich klein machen und in Abhängigkeit begeben. Das ist wirklich eine Zumutung. Denn wer Schwäche zeigt, wird von Stärkeren zur Seite gedrängt oder einfach überrollt. Und wer sich von anderen abhängig macht, wird ausgenutzt und erpresst.

Wir sehen das am Überfall Russlands auf die Ukraine und am Verhalten Russlands gegenüber dem Westen. Was wir dort im Großen sehen, erleben wir tagtäglich im Kleinen: Rücksichtnahme, Gutmütigkeit, Fairness und das Spiel nach Regeln werden von denen missachtet, die sich an keine Regel halten. Die unerbittlich ihren eigenen Vorteil suchen. Die jede Schwäche ausnutzen. Die nie zurückstecken, nie andere gewinnen lassen können, immer nur selbst Sieger sein wollen.

Wie die Kinder zu werden mag einen ins Himmelreich bringen;
auf Erden bringt es nur Nachteile.

Ist das nicht schrecklich? Ist es nicht schrecklich, feststellen zu müssen, dass Menschlichkeit, Fairness, Rücksicht im Alltag keinen Platz haben? Dass man Kinder eigentlich lehren müsste, sich durchzuboxen und durchzubeißen, sich zu nehmen, was sie kriegen können und dabei keine Rücksicht zu nehmen - nicht einmal auf die eigenen Geschwister, die eigenen Eltern?

Diese Welt ist wahrlich kein Paradies. Aber sie muss auch keine Hölle sein. Darum denken wir heute an die Engel. Sie sind Boten Gottes, vermitteln zwischen Gottes Reich und unserer Wirklichkeit. Sie vermitteln uns etwas von Gottes Wirklichkeit.

Lassen uns einen Blick auf ein anderes Leben erhaschen, das auch unter uns möglich wäre. Und wecken in uns die Sehnsucht nach diesem Anderen: die Sehnsucht nach Frieden. Nach Gerechtigkeit. Nach Barmherzigkeit und Menschlichkeit. So können wir es wagen, menschlich zu sein, gegen jeden Augenschein und jede Vernunft. Und das heißt: werden wie die Kinder.

Es gibt dafür keine Belohnung. Man hat davon keinerlei Vorteile. Aber der erbarmungslosen Welt, dem unerbittlichen Egoismus wird eine andere Wirklichkeit entgegengesetzt. Eine andere Möglichkeit, als Menschen in dieser Welt zu leben.

So halten wir die Hoffnung lebendig. Die Hoffnung auf Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. So geben wir Menschen Hoffnung, die untergebuttert und zur Seite gedrängt, übers Ohr gehauen und über den Tisch gezogen werden. So treten wir für die Kleinen ein, die sich nicht wehren können.

Wir können  sein wie die Kinder. Wir müssen nicht immer gewinnen. Wir können schwach sein und Schwäche zeigen. Wir können uns vielleicht sogar abhängig machen von anderen Menschen - von ihrer Liebe, ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem Wohlwollen. Gebe Gott, dass wir den Mut dazu finden. Amen.