Samstag, 1. Oktober 2022

staunen lernen

Predigt am Erntedanktag, 2.10.2022, über 5.Mose 8,7-18

Zum Erntedankfest geschmückter Altar in der Kirche in Wendisch Priborn


„Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte, der Bach sei ein Fluss,
der Fluss sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.”

(Peter Handke, Lied vom Kindsein)


I

Erinnere dich!

Erinnere dich an die Wunder deiner Kindheit:
Der Marienkäfer auf der Fingerspitze,
der plötzlich seine Flügeldecken hob und abflog;
die Wolken, die man auf dem Rücken im Grase liegend betrachtete
und die zum Drachen wurden, zum Riesen, zum Gesicht.

Erinnere dich
an das überraschende Prickeln des Brausepulvers im Mund;
an das wunderbare Gefühl, frisch gebadet ins frisch bezogene Bett zu schlüpfen;
an die Schneeflocke, die auf auf der Zunge zerging.


Liebe Schwestern und Brüder,

„Erinnere dich an den Herrn, deinen Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft, und dich geleitet hat durch die große und furchtbare Wüste, und ließ dir Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen und speiste dich mit Manna.”

Eine Geschichte - ein Märchen? - aus uralten Zeiten, das uns nicht mehr aus dem Sinn geht seit unserer Taufe. Seit wir uns Gottes Kinder nennen dürfen und es auch sind ist diese Geschichte auch unsere Geschichte, ist dieser Gott, der Wunder tat, auch unser Gott.

Geschichte - nicht umsonst ist es ein Doppelbegriff: Die Geschichte unseres Lebens, unsere Geschichte, besteht aus den Geschichten, die wir von uns erzählen. Man kann ein Leben auf unterschiedliche Weise erzählen: Als Erfolgsgeschichte, in der alles glatt ging, jeder Schritt geplant und überlegt war. Oder als die Geschichte des Scheiterns und der Misserfolge. Man kann sich als Meisterin oder Meister seines Geschickes erleben oder ohnmächtig, als Spielball der Mächte und der Mächtigen. Das Leben kann ein wunderbares Abenteuer sein oder eine einzige Enttäuschung, wie Hermann van Veen es beschreibt:

„Morgen ist der Zwölfte
und der wird wie der Elfte
und der war wie der Zehnte
ich hab, was ich ersehnte:
Stilles Glück, trautes Heim
jahraus, jahrein.”

Unser Leben ist verwoben mit vielen anderen Leben. So ist auch die Geschichte unseres Lebens verwoben mit vielen anderen Geschichten und mit der großen Weltgeschichte. Und wenn wir uns auch nur als winziges Rädchen im Weltgetriebe fühlen mögen - auf unser Leben hat großen Einfluss, was in der Welt geschieht; das Weltgeschehen wirkt unmittelbar auf uns ein.

Auch diese große Weltgeschichte kann man auf verschiedene Weise erzählen: Wissenschaftlich-nüchtern als eine Abfolge von Zufällen, die vom Urknall aufgrund der Naturgesetze zu erstem Leben auf dieser Erde führten. Über die Dinosaurier und die ersten Säugetiere schließlich zu uns, den Menschen. Nach dieser Erzählweise sind wir eine Spezies, eine Art unter Millionen anderer Arten. Dass es uns gibt, dass es gerade uns gibt in dieser Einmaligkeit, mit dieser unverwechselbaren Geschichte, hat nichts zu bedeuten.

Oder man erzählt sie als ein Wunder. Das Wunder, dass unsere Welt existiert, so unwahrscheinlich das ist. Dass sie nicht zufällig da ist, sondern gewollt wurde von Gott, der diese Welt schuf, das Leben auf dieser Welt, die Vielfalt an Pflanzen und Tieren - allesamt Geschöpfe wie wir, uns anvertraut, dass wir sie bewahren. Gott hat uns gewollt, rief uns ins Leben. In Gottes Augen ist jede und jeder Einzelne von uns unendlich wertvoll, unendlich wichtig. Liebenswert und schön.


II

Erinnere dich!

Erinnere dich auch an die Durststrecken in deinem Leben,
die Umwege, die Enttäuschungen, die finsteren Täler.
Waren auch sie von Gott gewollt?

„Erinnere dich an den Herrn, deinen Gott,
der dich geleitet hat durch die große und furchtbare Wüste,
auf dass er dich demütigte und versuchte,
damit er dir hernach wohltäte.”

Diese Zeilen klingen nach schwarzer Pädagogik, wie sie etwa in dem Spruch anklingt: „Wer die Rute spart, liebt seinen Sohn nicht” (Sprüche 13,24). Gott, der sein Volk „erzieht”, indem er es 40 Jahre in der Wüste leiden lässt? Der danach trotzdem feststellen muss, dass es „ein halsstarriges Volk” ist? Da hätte er sich den Aufwand und den Israeliten die Qual der Wanderung ersparen können. 

Auch von Gott kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Das 5. Buch Mose, aus dem der Predigttext stammt, wurde nach der Zerstörung Jerusalems im Exil geschrieben. Die Zerstörung des Tempels, der Verlust der Heimat und der staatlichen Existenz Israels waren ein Trauma. Für die damaligen Menschen war es ein Trost, dass Gott diese Strafe verhängt hatte, weil sie seinen Geboten ungehorsam gewesen waren. Sie hatten nicht an den falschen Gott geglaubt, waren nicht der Willkür der Siegermacht ausgesetzt. Gott war immer noch der Herr der Welt und der Herr der Geschichte. Wenn man nach seinen Geboten lebte, war Gott wieder gut und würde die Israeliten eines Tages zurück bringen in das Land ihrer Mütter und Väter.

Wir können heute nicht mehr so von Gott sprechen. Durch seinen Sohn Jesus Christus haben wir Gott anders kennen gelernt: Mitfühlend und voller Mitleid mit uns. Ein Gott, der uns nicht demütigt und auf die Probe stellt, sondern der mit uns geht, uns trägt und erträgt. Der nicht wartet, dass wir so werden, wie er uns will, sondern uns selbst ihm genehm macht, indem er uns seine Liebe schenkt und uns vergibt. Ein Gott, der uns liebt, über alle Maßen liebt und uns darum niemals wehtun würde.


III

Erinnere dich!

„Die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich”,

schreibt Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund aus dem Gefängnis in Tegel.
(Hl. Abend 1943, an Renate und Eberhard Bethge, WuE, S. 198)

Erinnern fällt nicht immer leicht. Besonders, wenn man sich vermeintlich besserer Zeiten erinnert, weil die Gegenwart von leidvollen Erfahrungen geprägt ist, von Trennung, Verlust oder Abschied. Dankbarkeit macht die Erinnerung erträglich, und ermöglicht es, sich mit der Gegenwart zu versöhnen.

Auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Erinnerung kann Dankbarkeit wecken. Wenn wir nach Gottes Spuren in unserem Leben suchen, sollten wir nicht nach großen Dingen Ausschau halten, weil Gott in seiner Größe auch große Füße haben muss. Gottes Spuren finden sich in den kleinen Dingen. Als Kinder haben wir das noch gewusst und über die Wunder gestaunt, die das Leben für uns bereit hielt.

Vielleicht müssen wir dieses Staunen wieder lernen. Staunen, auch im Rückblick auf unser Leben, beim Erinnern an das, was wir erlebt und erlitten haben. Staunend stellen wir fest, wie wenig  selbstverständlich so vieles gewesen ist, wie viel Glück wir hatten und erleben durften, wie oft wir Hilfe empfingen, getragen wurden.

Aus diesem Staunen entsteht Dankbarkeit für unser so wunderbares, so eigenartiges und so zerbrechliches Leben. Dankbarkeit für unsere wunderbare, verletzliche und gefährdete Welt. Darum liegen die Erntegaben vor dem Altar: Damit wir uns an ihnen freuen, staunen über die Vielfalt dessen, was in unseren Gärten und auf unseren Äckern wächst und dankbar sind unserem Schöpfer, der sie uns gegeben hat. - Dankbar sind auch den Menschen,  die diese Früchte in ihren Gärten gezogen und sie für uns so wunderbar hergerichtet haben.