Freitag, 7. Oktober 2022

aufgemerkt!

Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, 17. Oktober 2022, über Jesaja 49,1-6

Justus, der Lehrer aus dem „Fliegenden Klassenzimmer” von Erich Kästner; Zeichnung von Hans Trier

Hört mir zu, ihr Inseln,

und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! 

Liebe Schwestern und Brüder,

wann sind wir zuletzt so zum Zuhören aufgefordert worden? „Merke auf!”, so klang es in der Schule. Die Lehrer:in erinnerte daran, dass man jetzt aufpassen musste, weil etwas Wichtiges drankam, etwas „klausurrelevantes”.
Nun sind wir hier nicht in der Schule, und die meisten von uns sind auch keine Schüler:innen mehr. Die Frage ist, ob wir überhaupt gemeint, angesprochen sind. „Völker und Inseln” - wer soll das sein?
Aus der Perspektive des Landes Israel sind alle umliegenden Länder die „Gojim", die Völker, die Nichtjuden. „Gojim” heißen sie, weil sie Gott, den Gott Israels, nicht kennen. Und wenn man von Israel, das an der Ostküste des Mittelmeeres liegt, nach Westen übers Meer schaut, befinden sich dort die Inseln Zypern und Kreta, und jede Menge kleine. Auch dort wird der Gott Israels nicht verehrt, sondern andere Gottheiten wie der griechische Zeus.

Wir sind also in einer anderen Zeit, etwa 500 Jahre vor Christi Geburt. Der uns zum Zuhören auffordert, hat vor zweieinhalb tausend Jahren gelebt. Und das nicht in Israel, sondern im Gebiet des heutigen Irak, das damals „Babylon" hieß. Israel gab es nicht mehr, jedenfalls nicht als Staat. Viele seiner Bewohner waren nach Babylon verschleppt worden. Im babylonischen Exil richtete man sich auf unbestimmte Zeit ein. Die Städte, die Wohnhäuser waren zerstört. Keine:r konnte sagen, wann, und ob man jemals in die Heimat zurückkehren würde. In dieser Zeit entstand die Diaspora: jüdische Gemeinden außerhalb Israels, und ein jüdischer Gottesdienst ohne den jerusalemer Tempel, der ebenfalls zerstört worden war. 

Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an;
er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 

Der uns da anspricht, ist im Auftrag des Herrn unterwegs: ein Prophet. Gott selbst hat ihn beauftragt, sein Sprachrohr zu sein. Vor seiner Geburt. Des bedeutet: Er hat diesen Auftrag, im Namen Gottes zu sprechen, von niemand anderem bekommen. Und er hat ihn sich auch nicht selbst erteilt. Er hat sich das nicht ausgesucht. 

Es bedeutet auch: Er wurde wahrscheinlich im Exil berufen. Durch die Zerstörung des Tempels, durch die Exilierung waren alle staatlichen und religiösen Einrichtungen zusammengebrochen, auch der Gottesdienst. Das wäre so, wie wenn es bei uns plötzlich keine Kirchen mehr gäbe - weder die Gebäude, noch die Institution Kirche. Wie soll man da Gottesdienst feiern? Man müsste vieles neu erfinden. Und vielleicht wäre es dann auch nicht mehr selbstverständlich, dass Pastor:innen den Gottesdienst leiten und predigen. Man würde sie vielleicht sogar fragen, woher sie das Recht nehmen, sich an die Spitze der Gemeinde zu setzen. Darum legitimiert sich der Prophet durch seine Berufung: Er ist nicht Prophet aufgrund seiner Abstammung, oder weil er eine Urkunde darüber besitzt. Gott selbst hat ihn dazu gemacht.

Aber das kann jede:r behaupten. Wie will er das beweisen?

Gott hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht,
mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt.
Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht
und mich in seinem Köcher verwahrt.
Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel,
durch den ich mich verherrlichen will. 

Berufung bedeutet, dass der Prophet Gottes Wort verkündet. Sein Mund wird dafür zur Waffe, ein scharfes Schwert, das alles offenlegt, was man im Innersten verborgen hat. Ein spitzer Pfeil, der die wunden Punkte, der ins Schwarze trifft.
Aber eine Waffe, die verborgen ist: versteckt im Schatten der Hand, verborgen im Köcher. Gottes Wort ist nichts Offensichtliches, nichts unmittelbar Einleuchtendes. Aber wen es trifft, die:der ist getroffen.
Das Wort Gottes kann jemanden treffen, sodass sie:er sich getroffen fühlt: "Du bist der Mann", sagt der Prophet Nathan zu König David (2.Samuel 12,7) und überführt ihn damit, sodass David seine Schuld eingestehen muss.
Gottes Wort kann auch denen von Gott erzählen, die Gott noch gar nicht kennen: "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes", heißt es im 19. Psalm. Was als erstes, vor allem anderen von Gott erzählt wird, ist seine Herrlichkeit. In dieser "Herrlichkeit" steckt das strahlende Licht, das Gott ist. Und darin steckt auch, dass Gott der Herr ist, der Schöpfer der Welt, der uns das Leben gab. Dieses Wort richtet der Prophet aus. Und dass es Menschen ergreift, überführt und überzeugt: Das zeigt, dass er wirklich von Gott berufen wurde.

Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich
und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.
Doch mein Recht ist bei dem Herrn
und mein Lohn bei meinem Gott.

Der Prophet erzählt von Gott, aber er hat damit keinen Erfolg. Gottes Wort, die Waffe in des Propheten Mund, bleibt verborgen. Der Prophet kann das Schwert nicht ziehen, den Pfeil nicht verschießen, solange Gott beide verbirgt. Nur Gott selbst wirkt und berührt durch sein Wort; kein Mensch kann bewirken, was Gottes Wort tut: offenlegen, den wunden Punkt treffen und Gott verherrlichen. Darum scheint es dem Propheten, er arbeite vergeblich, weil er keinen Erfolg sieht. Und doch erreicht und berührt Gottes Wort Menschen, die es hören, und das verändert sie. Gottes schöpferisches Wort, durch das er die Welt schuf, macht die, die es hören, zu neuen Menschen:
Zu Menschen, die ihren Schatten begegnet sind - und dabei die Erfahrung machten: ihre Fehler, ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten verurteilen sie nicht und entwerten sie nicht. Sie sind ein Teil von ihnen, ein manchmal schmerzhafter Teil. Aber sie bestimmen nicht darüber, wer sie sind.
Gottes Wort, das die wunden Punkte berührt, verschafft auch Linderung und Heilung. Wunden schließen sich, Narben schmerzen nicht mehr.
Gottes Wort schließlich lässt auch das Licht sehen, das Gott ist. Lässt Gott als Herrn erkennen. Als Herr der Welt und als Herr meines Lebens. Denn Gott hat mir dieses Leben geschenkt. Er sorgt dafür, dass dieses Leben gelingt, dass es sinnvoll ist und erfüllt. Er sorgt dafür , dass es ein gutes Ende nehmen wird.

Und nun spricht der Herr,
der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat,
dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll
und Israel zu ihm gesammelt werde –
und ich bin vor dem Herrn wert geachtet
und mein Gott ist meine Stärke –,
er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist,
die Stämme Jakobs aufzurichten
und die Zerstreuten Israels wiederzubringen,
sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht,
dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.

Gott hat zuerst zu Israel gesprochen. Sein Volk ist es, das seine Wunder erlebte, seine Herrlichkeit am Sinai sah. Gott hat Israel erwählt unter allen Völkern. Und es bleibt erwählt, bleibt für immer Gottes Volk.
Doch auch die anderen Völker, auch die Gojim, sollen Gott kennen lernen. Gott, der die Welt und die Menschen geschaffen hat, will von allen Menschen verherrlicht und als Herr erkannt werden. Er bietet auch uns seine Freundschaft an. Darum spricht das vor zweieinhalb tausend Jahren geschriebene Wort noch heute zu uns. Durch dieses Wort spricht Gott zu uns. Wird zum Schwert, das uns ins Herz trifft, zum Pfeil, der uns in seinem Flug mitreißt und uns vernehmen lässt, was kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat. Gottes Wort ergreift uns so, dass das Ich des Propheten zu unserem Ich wird und wir erkennen: Auch wir sind von Gott berufen. Bevor wir geboren wurden, nannte Gott uns bei unserem Namen. So wurden wir Kinder Gottes, sind es bis heute und werden es immer sein.

Wir haben gehört und aufgemerkt. Dabei hat uns Gottes Wort berührt und ergriffen. Und nun geht es mit uns in unseren Alltag. Es hilft uns, Fehler und Schuld einzugestehen und zu unserer Verantwortung zu stehen. Es tröstet uns, indem es uns spüren lässt: Du bist nicht allein, niemals. Es lässt es hell werden in uns und um uns, weil es uns Gottes Herrlichkeit zu sehen gibt. So können wir getrost und getröstet in die neue Woche gehen. So werden wir selbst zu Bot:innen seines Wortes, unterwegs im Auftrag des Herrn. Durch uns richtet Gott den Völkern aus, dass er alle Menschen liebt. Und dass diese Welt eine Zukunft hat, weil sie Gottes Schöpfung ist. Amen.