Sonntag, 13. November 2022

Wir Protestant:innen

Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 13.11.2022, über Lukas 18,1-8

Ehrenmal in Glasgow zum Gedenken an die Bürger Glasgows, die während des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939 gegen die Faschisten kämpften.

„Jesus sagte seinen Jüngern ein Gleichnis davon,
dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte.”

Liebe Schwestern und Brüder,

allezeit beten und nicht nachlassen - sieht so ein gottgefälliges Leben aus? Und wenn ja, wie kriegt man das hin, immer zu beten und niemals nachzulassen? Die Lösung für unablässiges Beten, auf die man im Christentum sehr früh gekommen ist, war das Leben im Kloster: Siebenmal am Tag und einmal des Nachts kam man dort zum Gebet zusammen. Doch selbst eine Nonne, ein Mönch müssen mal essen oder schlafen. So wird es nichts mit dem allezeit Beten.

Man kann sich damit behelfen, dass man sagt: Das ganze Leben ist Gebet. Das Leben wird zum Gebet, wenn man sein Tun auf Gott ausrichtet; wenn alles, was man tut, im Namen Gottes geschieht. Aber man scheut sich, tatsächlich alles, was man so tut, unter den Begriff des Gebets zu fassen.

Doch wir sind auf der richtigen Spur, wenn wir das Gebot, allezeit zu beten, nicht als eine Anweisung für ein Handeln verstehen, das man nicht verwirklichen kann, sondern als eine Lebenshaltung. Was für eine Haltung das ist, erklärt Jesus mit Hilfe seines Gleichnisses:

Hartnäckig sein.
Anderen auf die Nerven gehen.
Anderen zur Last fallen.

Nicht unbedingt das, was man mit Gebet in Verbindung bringen würde. Unter Gebet versteht man innige Versenkung, den scheuen und ehrfürchtigen Kontaktversuch mit dem Numinosen.

Das hartnäckige Schreien eines Säuglings, das Gebrüll der Montagsdemonstranten erwecken nicht den Eindruck, dass hier gerade gebetet wird.

Natürlich spielt der Adressat eine Rolle. Das Baby wendet sich an Mutter oder Vater, die Demonstranten gegen „die Regierung”. Das Gebet richtet sich an Gott. Und so, wie Jesus es durch sein Gleichnis beschreibt, ist Beten kein demütiges, zurückhaltendes, stilles Bitten. Es ist ein forsches, hartnäckiges, penetrantes Fordern des Rechts von dem, der es durchsetzen kann.

Die forsche Art, in der die Witwe den Richter nervt, steht im Widerspruch zu ihrer sozialen Stellung. Als Witwe hatte sie in der antiken Gesellschaft nichts zu melden, hatte weder Rückhalt noch Rechte - deshalb bedrängt sie ja den Richter, er solle ihr Recht verschaffen.

So drängen heute Jugendliche auf Gehör, die sich als „last Generation” verstehen, weil sie womöglich die Letzten auf Erden sein werden, wenn wir nicht endlich etwas gegen den Klimawandel unternehmen. Doch anstatt ihre Forderungen anzuhören und zu prüfen, werden sie kriminalisiert. Man stellt sie in die Ecke von Gewalttätern. So geht ihr berechtigtes und so wichtiges Anliegen unter.

Auch die Witwe wird kriminalisiert. Der Richter phantasiert, dass sie ihm Gewalt antut: „dass sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.” Hier geht es nicht um die eher symbolische Backpfeife, mit der Frauen in amerikanischen Spielfilmen unverschämte Männer in ihre Schranken weisen. Das griechische Wort ὑπωπιάζω [hypopiádzo] stammt aus der Boxersprache und bedeutet „ein blaues Auge hauen”. Der Richter traut der doppelt schwachen Witwe - schwach durch ihre Zuordnung zum sogenannten „schwachen Geschlecht”, und schwach in ihrer gesellschaftlichen Stellung - eine ausgesprochen harte Rechte zu.

Diese Gewalt bringen wir nicht mit dem Gebet zusammen. Die Geste des Händefaltens, die aus dem höfischen Zeremoniell der Unterwerfung unter den Lehnsherren stammt, zeigt Waffen- und Gewaltlosigkeit an. Durch die quasi gefesselten Hände demonstriert man die Bereitschaft, sich dem Herrn unterzuordnen und auszuliefern. Die Geste der gefalteten Hände ist also das genaue Gegenteil zur geballten Faust der Witwe.

So, wie Jesus die Haltung des Gebetes in seinem Gleichnis beschreibt: als forsches, selbstbewusstes Auftreten, das um sein Recht weiß und es lautstark einfordert, bringt er uns in eine doppelte Verlegenheit: Wir sind es nicht gewohnt, so vom Gebet zu denken. Wir sind es auch nicht gewohnt, so von Gott zu denken: dass Gott Recht verschafft, wenn man nur penetrant genug ist.

Denn das Unrecht schreit zum Himmel. Es schreit zum Himmel seit Menschengedenken. Es schreit heute zum Himmel und wird es morgen und wohl auch in Zukunft noch tun. Das Unrecht schreit zum Himmel, weil wir Menschen so sind, dass wir Schwächere ausnutzen, übervorteilen, zur Seite drängen. Weil es unter uns Menschen gibt, um die niemand trauert, deren Leben nicht zählt und die deshalb als entbehrlich gelten. Menschen, die in Heime abgeschoben werden. Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Menschen, die im Sahel verhungern.

200 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung zur Verfügung, damit unsere Mitbürger:innen, damit wir in diesem Winter nicht frieren müssen, nicht ohne Strom dastehen, die Wohnung nicht verlieren. Viel Not wird damit gelindert oder sogar verhindert. Doch selbst, wenn die 200 Milliarden nicht ausgezahlt würden, müsste in unserem Land niemand verhungern oder erfrieren. In der Sahelzone könnte man mit einem Bruchteil dieser Summe den Hungertod aller dort lebenden Menschen verhindern.

Ein anderes Beispiel: Auf der Weltklimakonferenz haben die reichen Länder bereits im Jahr 2020 versprochen, gemeinsam 100 Milliarden Dollar zusammenzutragen, um damit den ärmeren Ländern des globalen Südens zu helfen, die Folgen des Klimawandels zu tragen, ihnen die Umstellung auf ein klimafreundlicheres Wirtschaften zu ermöglichen. Bis heute ist dieses Geld nicht zusammengekommen. Dabei ist das nicht einmal der Betrag, den unser Land allein für seine Bürger:innen als „Doppelwumms” locker macht.

Das Unrecht schreit zum Himmel. Wir aber scheinen taub gegen dieses Geschrei zu sein. Und wir denken, Gott müsse auch so sein. Genauso hartherzig und kaltschnäuzig. Denn Gott verschafft den Schwachen nicht ihr Recht. Gott hört und sieht scheinbar ungerührt, wie das Unrecht zum Himmel schreit. Wie Menschen vereinsamen, ertrinken, verhungern und die Welt vor die Hunde geht.

„Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten,
die zu ihm Tag und Nacht rufen,
und sollte er bei ihnen lange warten?”

Das ist eine rhetorische Frage. Natürlich wird er ihnen Recht schaffen. Gott lässt die, die ihn bitten, nicht warten: „Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.”

Bemerkenswert an dieser rhetorischen Frage ist, wer die Auserwählten Gottes sind: Die Auserwählten Gottes, das sind die, die Tag und Nacht zu ihm rufen.

Also nicht wir.

Sondern die Witwen und Waisen, die Armen und die Fremden, für die Gott quer durch die ganze Bibel eintritt, deren Rechte er immer und immer wieder einfordert, auch von uns.
Und man darf wohl ergänzen: Auch die Angst haben vor Krieg; Frauen, die sich gegen Bevormundung und Unterdrückung wehren; Jugendliche, die um ihre Zukunft, die Zukunft unseres Planeten bangen. Auch die Schöpfung seufzt und ängstigt sich.

Jetzt kommen wir dahinter, was Jesus mit diesem Gleichnis bezwecken will.

Wenn Jesus uns, seinen Jünger:innen, dieses Gleichnis erzählt, wer sind wir dann, Witwe oder Richter?

Jesus mutet uns zu, dass wir uns in der schwachen, hilfsbedürftigen Witwe wiederfinden, die sich ihr Recht nicht selbst verschaffen kann. Jesus mutet uns zu, dass wir uns in ihr wiedererkennen - und damit auch in den Armen, den Fremden, den an den Rand Gedrängten, den wegen ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe nicht Gleichberechtigten, kurz: denen, die als entbehrlich gelten. Die niemand betrauern würde, wenn sie nicht mehr da wären.

Erkennen wir uns wieder in ihnen, dann erkennen wir an, dass sie ein Recht auf Leben haben, ein Recht auf Glück und Erfüllung, wie wir. Wir erkennen, dass sie wertvoll sind. Einzigartig. Unentbehrlich, wie wir. Wir erkennen uns in ihnen wieder und bemerken mit einem Mal: wir würden um sie trauern, wir würden sie vermissen, wenn sie nicht mehr da wären.

Erkennen wir uns in ihnen wieder, erkennen wir an, dass auch wir bedürftig sind: Bedürftig der Liebe und Anerkennung anderer. Abhängig davon, dass das System der Gesellschaft funktioniert - dass wir Handyempfang, Internet, Strom, Wasser, Wärme haben, einkaufen können, ärztlich versorgt, geschützt werden. Wir sind abhängig von der Natur, vom Klima. Wir brauchen einander. 

Und darum sind wir nicht anders, nicht besser als die Witwe und die zahllosen Schwachen und Bedürftigen dieser Welt. Wir sind wie sie. Dieses Wissen ist unsere Stärke. Diese scheinbare Schwachheit: Dass wir aufeinander angewiesen sind, und dass wir auf Gott angewiesen sind, ist unsere eigentliche, unsere wahre Kraft.

Gemeinsam mit allen anderen Schwachen und Angewiesenen schreien wir das Unrecht gen Himmel. Liegen Gott in den Ohren, dass er ihnen Recht verschaffe. Indem wir so hartnäckig und penetrant das Unrecht anklagen, verändern wir die Welt. Denn wer gegen das Unrecht aufsteht, wird selbst keines begehen wollen. Wer für das Recht aller auf Leben, auf Glück eintritt, wird selbst niemanden als entbehrlich ansehen. Wer den Klimawandel verhindern will, wird Schritte ergreifen wollen – zum Beispiel freiwillig Tempo 120 fahren, wie es die Synode der EKD vorgeschlagen hat.

Der Theologe Christoph Blumhardt hat einmal gesagt: „Christ:innen sind Protestleute gegen den Tod.” Protest: Das ist die Form des Gebetes, die Jesus uns lehren will. Darum heißen wir „Protestanten”. Und darum sind unsere Kirchen, unsere Gemeinden heute wichtiger denn je: Weil hier das Leben gegen den Tod protestiert, gegen die Bedrohung des Lebens durch Krieg, durch Hunger, durch Klimawandel, durch Egoismus und Hartherzigkeit. Hier, in unserer Gemeinde tragen wir das Unrecht, das auf der Welt geschieht, zum Himmel. Und wir wissen, dass Gott es hört und uns erhört.

Wir Protestant:innen sind heute wichtiger denn je. Die Welt, unser Land, die Menschen unserer Stadt brauchen unseren Protest. Unseren Einspruch für die Schwachen, die Entbehrlichen, für unsere bedrohte Schöpfung.

Und wir brauchen die Erkenntnis, dass wir für uns selbst eintreten, wenn wir unsere Stimmen für andere erheben. Denn wir sind wie sie, und wir sind nichts ohne sie. Wir können nicht ohne sie sein. Wir können nicht ohne Gottes Schöpfung sein.

Darum erheben wir unsere Stimmen und lassen niemals nach. Das ist das Beten, das Jesus von uns will. Amen.