Samstag, 19. November 2022

dem wahren Leben begegnen

Predigt am Ewigkeitssonntag, 20. November 2020, über Markus 13,28-37

Altar mit Kerze und Kreuz, das seinen Schatten an die Wand wirft. Schweriner Dom, Thomaskapelle


„An dem Feigenbaum lernt ein Gleichnis:
Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben,
so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.”

Liebe Schwestern und Brüder,

es hat Anzeichen gegeben: die Portionen wurden kleiner, der Appetit geringer. Zum Essen fehlte die Lust, es wurde mühsam und beschwerlich. Happen für Happen musste gereicht werden. Nichts schmeckte mehr, nichts weckte mehr den Appetit, nicht einmal das Leibgericht. Der Körper wurde schmaler, leichter, weniger.
Die Beweglichkeit ließ nach, auch die Lust, sich zu bewegen. Der Körper versteifte sich. Es wurde schwer, ihn anzuziehen oder die Kleidung zu wechseln.
Das Interesse ließ nach. Was vor sich ging, wurde kaum wahrgenommen. Roman, Zeitung oder Zeitschrift blieben ungelesen. Fernsehen oder Radio spielten, aber sie spielten keine Rolle mehr. Vertraute, nahe Menschen wurden nicht mehr erkannt. Nur manchmal blitzte etwas auf, so etwas wie ein Erkennen, ein Lächeln.

Die Anzeichen waren da. Besucher:innen erschraken, wie schnell der Verfall voranschritt. Wie groß waren die Veränderungen gegenüber dem letzten Besuch! Wie belastend, den Menschen so zu sehen, den man ganz anders in Erinnerung hatte und nun kaum wiedererkannte. Wie belastend, diesen Menschen so leiden zu sehen!
Man selbst sah sie auch, die Anzeichen. Jeden Tag wurde man damit konfrontiert. Und sah sie doch auch wieder nicht. Der geliebte Mensch war ja noch derselbe, trotz aller Veränderungen, die mit ihm vorgingen. Man war ihr, war ihm so nah wie immer, auch ohne Worte. Die Nähe, die über so lange Zeit selbstverständlich gewesen war, blieb selbstverständlich, auch wenn man Handgriffe tun musste, die man sich in guten Zeiten nicht hatte vorstellen können.

Darum kommt der Tod überraschend. Der Tod, den Außenstehende schon lange hatten kommen sehen. Den man selbst kommen sah. Aber man wollte ihm nicht nachgeben. Man wehrte ihn ab, versuchte, was möglich war, um ihn noch einen Tag, eine Woche fernzuhalten. 

„Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht,
so wisst, dass er nahe vor der Tür ist.”

Wer einen sterbenden Menschen begleitet, macht sich keine Illusionen und hält dennoch die Hoffnung  fest, dass der andere, die andere noch nicht gehen muss, dass man noch Zeit hat. Wie gut, dass man nicht weiß, wann es soweit ist! Und auch wie quälend, von Tag zu Tag zu bangen und nicht zu wissen, ob der heutige Abschied schon ein endgültiger ist.

Mit einem Menschen, der stirbt, stirbt eine ganze Welt: ihre oder seine Welt, von der wir ein Teil waren und die ein Teil unserer Welt war. Es stirbt die Welt, die dieser Mensch geschaffen hat mit seinen Geschichten und Träumen, mit dem, was er oder sie aufgebaut, gestaltet hat, was er oder sie weitergab an Partnerin oder Partner, an Schüler:innen, an Kinder und Enkel. Und es stirbt die Welt, die dieser Mensch war: die Vielfalt seiner oder ihrer Gedanken, Erfahrungen,  Wünsche und Erinnerungen, von denen wir nur den geringsten Teil kannten. Wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist, bemerkt man erst, wie wenig man von ihr, von ihm wusste.

„Himmel und Erde werden vergehen; 
meine Worte aber werden nicht vergehen.”

Jesus erzählt seinen Jüngern vom Ende der Welt. Mit dem Ende der Welt ist, worunter wir leiden - die ungerechte Verteilung von Arm und Reich; der Verfall und die Zerstörung von Schönheit, von unserer  Umwelt; Krankheit, Einsamkeit, Selbstzweifel; die Ungewissheit, was wahr ist - ist all das nicht mehr da.
Nicht mehr da ist auch das, was uns erfüllt und glücklich macht: die Musik, die unsere Seele berührt, Geschmäcker und Gerüche, die uns neue Welten eröffnen, die Schönheit, die wir sehen, die Phantasie, die uns eigene Welten erschaffen lässt und das wunderbare Gefühl der Nähe des geliebten Menschen.

Mit dem Ende der Welt ist zuende, was wir „Leben” nennen, und was das Leben für uns lebenswert macht. Aber das Leben ist nicht zuende. Etwas Neues beginnt: Das Reich Gottes, von dem Jesus erzählte. Ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. Ein neuer Himmel und eine neue Erde, in der es kein Leid gibt, keinen Schmerz, kein Geschrei und auch nicht den Tod. Das Paradies.

Das Reich Gottes ersehnten und ersehnen sich viele. Oft, aber nicht nur, wenn sie unter schlimmen Verhältnissen leiden. Viele Christinnen und Christen konnten es kaum erwarten, endlich Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, endlich nicht mehr nur glauben zu müssen, sondern zu wissen, zu erleben, was man geglaubt hat. „Ich freue mich auf meinen Tod”, heißt es in einer Kantate von Johann Sebastian Bach. Und ein Lied aus dem Gesangbuch für das Ende des Kirchenjahres lautet:

„Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir!
Mein sehnend Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir.
Weit über Berg und Tale, weit über Flur und Feld
schwingt es sich über alle und eilt aus dieser Welt.”

Aus diesen Worten spricht kein Lebensüberdruss. Der Sänger ist nicht lebensmüde, sondern sehnt sich nach einer Welt, in der es keinen Verlust, keinen Abschied, keine Trauer, kein Leid, keine  Missverständnisse und keine Konflikte, keinen Verfall und keinen Tod mehr gibt. Wer sehnte sich nicht danach!

Um diese Welt zu erreichen, muss man nicht den Tod herbeisehnen und dafür muss man auch nicht sterben. Jesus predigte denen, die ihm nachfolgten: „das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen.” In Jesus war es gegenwärtig, wo Blinde wieder sehen konnten, Lahme gehen und den Armen das Evangelium gepredigt wurde.

Es ist noch heute gegenwärtig. Hier, mitten unter uns. Weil Jesus versprochen hat: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.” Jesus ist da - aber wir sehen ihn nicht. Wie soll das Reich Gottes mitten unter uns sein, wenn davon nichts zu sehen, nichts zu spüren ist?

„Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht,
wann der Herr des Hauses kommt.”

Wie niemand die Stunde seines Todes kennt, so wissen wir auch nicht, wann uns das wahre Leben begegnet. Wir wissen nur, dass es jederzeit passieren kann. Jesus, das wahre Leben, begegnet uns, wenn und wo Menschen in Jesu Namen zusammenkommen. Darum gilt es, wachsam zu sein, und das heißt: Aufmerksam für den Menschen neben mir. Denn wer weiß: In ihr, in ihm könnte mir Jesus, das Leben selbst, begegnen.

Man weiß es immer erst hinterher.
Die beiden Jünger, die Jesus beim Abendmahl in Emmaus erkannten, vergewissern sich: „Brannte nicht unser Herz in uns?” Daran hätten sie es merken können. Aber man merkt es nicht, wenn es geschieht. Gott verhüllt sich im Geheimnis. In diesem Leben können wir ihn nicht sehen. Wir können ihn nicht begreifen, nicht wissen, nur glauben.

Doch wenn wir auch nichts fühlen von Gottes Macht, seine Nähe nicht spüren, wie wir die Nähe des geliebten Menschen spüren: Gott ist da. Und mit ihm sein Reich, diese ganz andere Wirklichkeit, die uns alle erwartet: Die, von denen wir Abschied nehmen mussten, und auch uns. Gottes Reich strahlt auf in unserer Wirklichkeit. Dadurch wirft es ein neues Licht auf unsere Welt, ein neues Licht auf unsere Mitmenschen und auf uns. Wir sehen, was wir, was sie in Gottes Augen sind: seine über alles geliebten Kinder. Wir sehen, was die Welt in Gottes Augen ist: seine Schöpfung, von der er sagt: Sie ist sehr gut.

In diesem neuen Licht wird alles verwandelt. Trauer und Schmerz verwandeln sich in Dankbarkeit. Hoffnungslosigkeit verwandelt sich in Möglichkeit. Angst verwandelt sich in die Zuversicht, dass Gott uns niemals allein lässt. Feinde verwandeln sich in Mitmenschen, Fremde in unsere Schwestern und Brüder. Auch wir selbst werden verwandelt in diesem Licht. Wir sehen uns neu. Ohne die Schuld, die uns belastete. Ohne die Fehler, die Unzulänglichkeiten, für die wir uns schämten. Wir sehen, dass wir schön sind. Und dass wir geliebt werden. Über alle Maßen geliebt.

Die Anzeichen sind da. In einem Lächeln. Einem Wort, das uns trifft. Einer unverkennbaren Geste. In Brot und Wein. Manchmal fragen wir uns: „Brannte nicht unser Herz in uns?” Dann wissen wir: Er war da. Wir waren ihm ganz nah. Sein Reich ist mitten unter uns.

Amen.