Sonntag, 4. Dezember 2022

Die Stimme des Liebsten

Predigt am 2. Advent, 4. Dezember 2022, über Hoheslied 2,8: 
Maria mit Kind. Holzfigur im Meininger Museum


Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Liebe Schwestern und Brüder,

manche Menschen erkennt man an ihrer Stimme: Nachrichtensprecher. Radio-Moderatorinnen. Erzähler von Hörbüchern. Sängerinnen und Sänger. Man erkennt sie, denn man hört sie täglich. Ihre Stimmen haben sich eingeprägt. 
 Dann gibt es Menschen mit einer besonderen, einer unverkennbaren Stimme. Mit einem sogenannten „Sprachfehler” wie der Schischyphusch aus Wolfgang Borcherts Erzählung. Oder mit einer besonders hohen, besonders tiefen, besonders schrillen oder tragenden Stimme. Einer Stimme, die man nie vergisst. 
Und dann gibt es die Stimme des Liebsten, der Liebsten. Die Stimmen der Eltern und Großeltern, der Kinder und Enkel, des Freundes oder der Freundin. Auch sie hört man täglich oder regelmäßig. Auch sie können unverwechselbar sein, einen besonderen, einzigartigen Klang besitzen. Aber nicht deshalb würde man sie jederzeit wiedererkennen unter tausenden anderer Stimmen. Sondern weil man den Menschen liebt, dem diese Stimme gehört. Und damit auch seine oder ihre Stimme. Die Liebe zum Liebsten, zu seiner oder ihrer Stimme macht diese Stimme für uns so besonders. 

 An der Stimme erkennt man den geliebten Menschen, bevor man sie oder ihn sieht. Mit 300 Metern in der Sekunde breitet sich der Schall aus. So schnell kann niemand laufen. Die Stimme kündigt an, dass der Liebste da ist, sie eilt ihm voraus. 
 In der Adventszeit erwarten wir das Kommen eines ganz besonderen Menschen. Eines Menschen, der von sich sagte: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch” (Johannes 15,9). Jesus ist die Liebe Gottes zu uns Menschen, zu jeder und jedem Einzelnen von uns, die in der Krippe greifbar, be-greifbar wird. Die ein Mensch wird und unter uns wohnt. Die als liebenswertes Kind in der Krippe unsere Liebe weckt, wie das alle Kinder tun. So, indem er unsere Liebe weckt, wird Jesus unser Liebster. Im ersten Teil des Weihnachtsoratoriums singt der Alt: „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn.” 

Es klingt ungewohnt und eigenartig, von Jesus als dem „Liebsten” zu sprechen. Das wirkt ein bisschen zu dick aufgetragen, ist ein bisschen zu viel des Überschwanges. Das passt nicht zu unserer norddeutschen Mentalität, die eher zurückhaltend ist. Doch auch ein zurückhaltender Mensch empfindet Liebe, kann dahinschmelzen vor Liebe, er zeigt das bloß nicht nach außen und spricht nicht gern darüber. 

Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Ja, er ist im Kommen, der Schönste, der Liebste, das Gottes-Menschenkind. Seine Stimme eilt ihm voraus. Aber wann hören wir sie, seine Stimme, und wie? Woran erkennen wir, dass es seine Stimme ist unter den vielen, die täglich auf uns eindringen? 
 Ist Jesu Stimme eine innere Stimme? Ist sie, wie Herman van Veen singt, ein „Trommler, der beharrlich in dir schlägt. Der dich bei aller Gegenwehr auch durch Feindeslager trägt. Hör auf ihn, er sagt dir was. Wenn er sich nicht mehr regt ist das ein Zeichen dafür, dass sich gar nichts mehr bewegt” ? (Herman van Veen, Herz
 Es könnte das Herz sein, mit dem wir die Stimme Jesu wahrnehmen. Früher beteten die Kinder: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein”. Aber woher weiss man, dass es Jesus ist, den man im Herzen hat, sodass es manchmal heftig schlägt? Und wie ist er da hinein gekommen, in unser Herz? 

Jesu Stimme begegnet uns in den Worten der Bibel. Hinter und zwischen und in den Worten der Schrift steht das eine Wort Gottes, das Jesus Christus ist. Durch dieses Wort hat Gott die Welt geschaffen. Mit diesem Wort spricht er uns gerecht. In diesem Wort schenkt er uns das Leben. Aus den Worten der Bibel spricht er zu uns, Gottes Sohn. Wir hören seine Stimme in den Worten der Propheten. Wir erkennen ihn wieder im Gottesknecht, der den glimmenden Docht nicht auslöscht und das geknickte Rohr nicht zerbricht. Der nicht schreit und nicht ruft, dessen Stimme man nicht auf der Straße hört (Jesaja 42,3.2). Wir hören seine Stimme aus Worten wie „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Johannes 10,11.27) oder „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende” (Matthäus 28,20). Seine Stimme erklingt in den Worten, die diese Worte der Schrift nachzusprechen versuchen von der Zeit Jesu bis heute: In Predigten und Bekenntnissen, in Gebeten und Liedern. Sie wird zu Musik, die unser Herz erfüllt und es pochen lässt vor Vorfreude: 

Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Amen.