Montag, 26. Dezember 2022

aus Gottes ewgem Rat

Liedpredigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2022, über EG 30: Es ist ein Ros entsprungen

Noten und Text der 1.Strophe des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen”


Liebe Schwestern und Brüder,


de gustibus non est disputandum -

über Geschmack lässt sich nicht streiten .

Das gilt auch für die Frage, welches das schönste Weihnachtslied ist.

Ein Lied, auf das wir uns alle verständigen könnten

und das zumindest zu den Favoriten

für das schönste Weihnachtslied gehört,

ist das Lied „Es ist ein Ros entsprungen”.

Besonders in dem vierstimmigen Satz,

den der Wolfenbüttler Hofkapellmeister Michael Praetorius ihm gab

und den wir jetzt von der Orgel gespielt hören:


<Orgel>


Was macht diese Melodie so schön?

Es ist wohl ihre Schlichtheit.

Dreimal kommt darin die selbe Phrase vor.

Ihr erster Teil setzt sehr hoch an, mit dem c,

und klingt wie eine Rezitation:

„Es ist ein Ros entsprungen”.

Darauf folgt eine absteigende Tonleiter:

„Aus einer Wurzel zart”.

Wenn man sie so singen würde, wäre das Lied langweilig.

Aber es heißt:

„Aus eíner Wurzél zart”.

Nachdem wir zweimal diesen ersten Melodieteil gesungen haben,

folgt eine kurze zweite Melodie, die bis zum C hinabsteigt:

„und hat ein Blümlein bracht”.

Dann folgt zum dritten Mal der erste Melodieteil,

mit dem das Lied schließt.

Dadurch wird die kurze, zweite Melodie besonders herausgehoben,

weil sie so anders ist als der dreimal wiederholte erste Teil.

Und damit wird auch das, was sie sagt, hervorgehoben:

„und hat ein Blümlein bracht” in der ersten und

„aus Gottes ewgem Rat” in der zweiten Strophe.


Das Lied ist ein Rätsellied -

für uns natürlich nicht; wir wissen ja, wer das Blümlein ist.

Aber auch wenn wir die Lösung kennen,

macht das Rätsel das Lied noch einmal interessanter:

Wer ist diese Rose aus der Wurzel Jesse,

und wer das Blümlein, das diese Rose hervorbringt?

Singen wir gemeinsam die erste Strophe

und achten wir dabei auf das Rätsel, das sie stellt:


<Orgel: 1. Strophe>


Der Liedtext bezieht sich auf eine

der alttestamentlichen Weissagungen,

die in der Christvesper gelesen werden.

Bei Jesaja heißt es im 11. Kapitel:

„Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais

und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.”

Jesaja spricht von einem Reis, nicht von einer Rose.

Und von einer Blüte sagt er auch nichts.

Trotzdem ist diese Bibelstelle die Vorlage für das Lied.

Nur nicht in der Fassung, wie sie in der hebräischen Bibel steht.


Ende des 4., Anfang des 5. Jahrhunderts übersetzte Hieronymus

das alte Testament in die damalige Verkehrssprache Latein.

Es entstand die Vulgata, die in der katholischen Kirche

bis heute der maßgebliche Bibeltext ist.

Dort lautet die Stelle bei Jesaja:

„Es wird ein Reis aus der Wurzel Jesse hervorgehen

und eine Blume aus ihrer Wurzel aufgehen.”

In diesem Satz verbirgt sich ein Wortspiel:

„Reis” heißt auf Latein „virga“.

„Virga” erinnert an das lateinische Wort für Jungfrau, „virgo”.

Weil das Reis, virga, so ähnlich klingt wie die Jungfrau, virgo,

wurde das Reis aus der Wurzel Jesse mit Maria gleichgesetzt.

Im Mittelalter wurde dann aus dem Reis die Rose.

Das Rätsel, das die erste Strophe aufgibt, lautet also:

„Was ist das: Aus einer Wurzel entspringt eine Rose,

und auf dieser Rose blüht eine Blume?”


Die zweite Strophe gibt uns die Antwort auf das Rätsel.

Wir hören vom Chor, wie die Antwort lautet:


<Chor: 2. Strophe>


Wer ist die Rose, und wer ist die Blume?

Die zweite Strophe sagt: Das Kind, von Maria geboren, ist die Blume.

Aber diese Strophe verrät uns nicht, wer die Rose ist.

Das liegt daran, dass die Strophe, die in unserem Gesangbuch steht,

nicht die originale zweite Strophe ist.

In der ursprünglichen Fassung lautet die zweite Strophe so:


„Das Röslein, das ich meine,

davon Jesaja sagt,

ist Maria, die reine,

die uns das Blümlein bracht.

Aus Gottes ewgem Rat

hat sie ein Kind geboren

und blieb ein reine Magd.”


Diese Strophe löst das Rätsel:

Die Rose ist Maria, ihr Kind ist die Blume.

Warum singen wir es dann nicht so?

Michael Praetorius und den Theologen seiner Zeit

war in dieser Strophe zu viel von Maria die Rede.

Das ist kein Wunder.

Das Lied entstand in katholischen Gemeinden

in der Gegend von Trier, wo es mündlich weitergegeben wurde.

1587 schrieb es ein Kartäusermönch zum ersten Mal auf.

Durch die Kartäuser gelangte es nach Köln,

wo es 1599 in einem katholischen Gesangbuch gedruckt erschien.

Schon wenige Jahre später hatte Michael Praetorius es

in Wolfenbüttel kennengelernt und 1609 seinen vierstimmigen Satz

mit der von ihm geänderten zweiten Strophe veröffentlicht.

Damals waren die Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten

viel schärfer als heute, oft unversöhnlich.

Alles, was an die jeweils andere Konfession erinnerte, war verpönt.

Deshalb musste Maria für uns Protestanten

in den Hintergrund treten.


Das wäre aber gar nicht nötig gewesen.

Das Lied handelt ja nicht von Maria.

Wir haben vorhin gesehen,

dass der zweite Melodieteil des Liedes

den wichtigsten Gedanken der Strophe markiert.

Der ist in der evangelischen Fassung der selbe wie in der katholischen:

„aus Gottes ewgem Rat”.


Dieser ewige Rat ist unser Heil:

Gott will, dass wir glücklich sind,

dass unser Leben gelingt.

Diesen Entschluss hat er vor aller Ewigkeit getroffen.

Das bedeutet: Gott will auf jeden Fall Gutes für uns.

Krankheit, Leid und Tod sind nichts, was von Gott kommt,

um uns, wie man früher glaubte, zu erziehen oder zu bestrafen.

Wenn Gott vor Ewigkeiten unser Heil beschlossen hat,

spielt es keine Rolle, was wir tun oder wer wir sind,

weil Gottes Entschluss über uns

und über unser Leben bereits fest steht.

Diesen ewigen Entschluss Gottes verkörpert das Kind,

das von Maria geboren wurde,

damit wir unser Glück auch fassen können.


Zu unserem Glück brachte Maria Gottes Sohn zur Welt.

Durch ihn leben wir trotz aller Schwierigkeiten,

die das Leben uns bereitet,

trotz aller Fehler und falschen Entscheidungen unsererseits,

trotz aller Steine, die uns in den Weg gelegt werden,

trotz Gefährdung, Krankheit und Tod.


Das bringt die dritte Strophe zum Ausdruck,

die nicht ursprünglich zum Lied gehörte.

Pastor Friedrich Layritz ergänzte sie 1844,

damit man länger Freude an der schönen Melodie haben sollte.

Lassen sie uns diese 3. Strophe gemeinsam singen:


<Orgel: 3. Strophe>


Das Leben, das Glück kann uns nicht jedes Kind schenken -

so glücklich uns ein Kind machen kann,

so lebendig wir uns durch dieses Kind fühlen.

Das Leben, das Glück schenkt nur Gottes Sohn.

Das ist ein großes Geheimnis.

Dass es ein Geheimnis ist,

dass dieses Kind in der Krippe Gottes Sohn ist,

zeigt seine wunderbare Geburt:

Es wurde nicht wie alle Kinder gezeugt,

und es kam auch nicht wie alle Kinder auf die Welt.

Es wurde von einer Jungfrau geboren,

wie es auch im Glaubensbekenntnis heißt:

„Geboren von der Jungfrau Maria”.


Die Jungfrauengeburt bringt zum Ausdruck,

dass Jesus selbst ein Wunder ist

und dass mit ihm etwas ganz und gar Einmaliges und Einzigartiges,

Gott selbst, zur Welt kam.

Diskussionen über das Wunder der Jungfrauengeburt -

ob das überhaupt möglich ist,

und wie man sich das vorstellen soll -

gehen am Sinn der Sache vorbei.


Wir sollen uns nicht mit der Frage beschäftigen,

ob und wie das möglich ist.

Es gilt auch nicht zu glauben, dass es möglich war.

Es gilt zu staunen über das Geheimnis,

über das Rätsel, das uns die Geburt aus der Jungfrau Maria aufgibt.


Wer das Lied als Rätsellied singt,

fragt nach Maria und findet mit der Mutter das Kind.

In diesem Kind begegnet uns Gottes ewiger Rat:

Gottes Liebe zu uns,

die seit unvordenklichen Zeiten feststeht.

Das ist des Rätsels Lösung.


<5. Strophe: Chor: Amen>


__________

Anmerkung:

Der Predigt liegt der Beitrag von Hansjakob Becker zugrunde in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, Hgg. Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Jürgen Henkys, Hermann Kurzke, Christa Reich, Alex Stock, München (C.H.Beck), 2009, ISBN 978 3 406 59247 8, S. 135-145. Der Schluss der Predigt zitiert den Schluss des Beitrages: „Es ist ein Ros entsprungen ist ein Rätsellied. Es fragt mit der Tradition nach Maria. Wer mit dem Lied diesen Weg geht, findet mit der Mutter das Kind und begegnet in diesem Kind (Jes 9,5) … leibhaftig Gottes ewgem Rat. Das ist des Rätsels Läsung” (S. 145, Hervorhebungen vom Autor).