Samstag, 31. Dezember 2022

Schenken und Scheiden

Ansprache zum Altjahrsabend 2022 über Römer 8,31-39


Liebe Schwestern und Brüder,


eine Woche liegt der Heilige Abend bereits zurück.

Die Vorräte an Keksen und Stollen haben sich spürbar gelichtet.

Die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum sind verschwunden,

verpackt, verteilt, schon in Benutzung.

Auch das Geschenkpapier ist entsorgt

oder fürs nächste Mal ordentlich zusammengelegt.

Warum schenkt man sich eigentlich etwas zu Weihnachten?


Wer der Tradition verhaftet ist,

wird die Heiligen Drei Könige als Grund anführen

mit ihren Geschenken von Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Ein:e Pragmatiker:in wird argumentieren,

dass schenken müsse, wer selbst etwas geschenkt bekommen wolle.

Und ein:e Romantiker:in, dass ein Geschenk

ein Zeichen der Zuneigung oder der Wertschätzung sei.


Schenken kann man jeden Tag.

Dass ausgerechnet Weihnachten der Tag des Schenkens ist,

könnte man mit der Erinnerung an die Geschenke

der Heiligen Drei Könige für das Jesuskind erklären.

Der heutige Predigttext aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes

bietet eine andere Erklärung an, die gut zum Jahreswechsel passt.

Darin ist vom Schenken und Scheiden die Rede.

Hören wir, was Paulus an die Römer schreibt:


„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,

sondern hat ihn für uns alle dahingegeben –

wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?

Gott ist hier, der gerecht macht.

Wer will verdammen?

Christus Jesus ist hier, der gestorben ist,

ja mehr noch, der auch auferweckt ist,

der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.


Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?

Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger

oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?

Wie geschrieben steht:

»Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag;

wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«

Aber in dem allen überwinden wir weit

durch den, der uns geliebt hat.

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,

weder Engel noch Mächte noch Gewalten,

weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,

weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur

uns scheiden kann von der Liebe Gottes,

die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.”


Der Jahreswechsel ist ein Scheiden

zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden.

Man lässt das alte Jahr hinter sich

und bereitet sich auf das neue vor, so gut es geht.

Wenn es auf Reisen geht, packt man für alle Eventualitäten:

für gutes Wetter und für schlechtes;

für das Faulenzen am Strand und für den Restaurantbesuch;

für Sonnen- und für Regentage;

Schwimmsachen und Wanderzeug.


Unser Schenken an Weihnachten

könnte man auch verstehen als eine Vorbereitung

auf das kommende Jahr.

Dann wären der neue Pullover oder Schal,

die Spielsachen oder die Elektronik,

ja selbst die oft verspotteten Socken und Krawatten

sozusagen das Reisegepäck.


Unser Schenken an Weihnachten ist auch eine Antwort

auf das Geschenk, das Gott uns an Weihnachten macht.

Gott schenkt uns seinen Sohn.

Und mit ihm, so schreibt es Paulus, schenkt er uns „alles”.

Was ist das, „alles”?

Ist es wirklich alles, was wir uns vorstellen können,

alles, was wir uns nur wünschen könnten?

Gottes Sohn ist nicht das Sams,

das unterschiedslos alle Wünsche erfüllt,

die einem nur einfallen können.

Gott schenkt uns seinen Sohn nicht,

um unsere Konsumträume zu erfüllen.


Das „Alles”, das Paulus meint,

ist alles, was wir zum Leben brauchen.

Und das ist in Martin Luthers Erklärung

zur vierten Bitte des Vaterunsers eine ganze Menge:


„Alles, was not tut für Leib und Leben,

wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh,

Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut,

fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen,

fromme und treue Oberherren, gute Regierung,

gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre,

gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen”.


Wenn wir auch Martin Luthers Aufzählung heute

etwas moderner formulieren und z.B. um

„gutes WLAN” oder „Internet” ergänzen würden,

ist es doch das, was wir auch 2023 brauchen werden.


Wir werden es nötig haben.

Denn Paulus zählt auf,

was einem im Laufe eines Jahres so begegnen kann:


„Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger

oder Blöße oder Gefahr oder Schwert”.


Auch diese Aufzählung würde man heute modernisieren

und ergänzen um den Krieg in der Ukraine

oder den Klimawandel.


All diese persönlichen, gesellschaftlichen und globalen

Nöte und Probleme können uns nicht scheiden von Gottes Liebe,

schreibt Paulus.

„Liebe” klingt erst einmal nach nicht viel.

Liebe nimmt sich gegenüber den Problemen,

denen wir im kommenden Jahr gegenüberstehen werden,

klein und ohnmächtig aus.


Gottes Liebe aber ist es,

durch die wir den Herausforderungen und Problemen

überhaupt begegnen, durch die wir uns ihnen stellen können.

Denn sie gibt uns einen Standpunkt,

auf dem wir stehen und von dem aus wir handeln können.


Dieser Standpunkt lautet:

Gott liebt uns.

Wir haben Gottes Liebe gewonnen -

nicht aufgrund einer Leistung

oder weil wir an einer Lotterie teilgenommen haben.

Sondern weil Gott uns seinen Sohn geschenkt hat.

Mit Gottes Liebe haben wir alles gewonnen,

was es im Leben zu gewinnen gibt.

Natürlich kann man noch im Lotto gewinnen,

kann Preise gewinnen, Ansehen und Anerkennung,

vielleicht sogar den Nobelpreis.

Gottes Liebe übersteigt all diese Gewinne weit,

weil sie uns annimmt, so wie wir sind.

Weil sie uns unsere Fehler verzeiht.

Weil es ihr nichts ausmacht,

dass wir nicht haben, was andere haben;

nicht können, was andere können;

nicht den Erfolg haben, den andere haben.


Gottes Liebe befreit uns von all diesen Ansprüchen,

vom ängstlichen Schielen auf das,

was die anderen tun oder sagen.

So eröffnet sie uns neue Möglichkeiten.

Wir können im neuen Jahr neue Wege beschreiten.

Wir können Dinge anders machen, als wir sie bisher taten.

Wir können selbst anders, wir können andere werden.

Gottes Liebe gibt uns das Recht, ein:e andere:r zu sein.


Gottes Liebe ist aber noch mehr:

Sie ist eine Macht.

Eine Macht, die unsere Vorstellungen weit übersteigt.

Wir können uns nicht vorstellen,

wie es Frieden geben kann in der Ukraine - Gott kann es.

Wir trauen uns und unseren Mitmenschen nicht zu,

rechtzeitig die nötigen Schritte gegen den Klimawandel zu ergreifen.

Aber Gott vertraut darauf, dass wir es tun werden.

Gott glaubt an uns.


Sein Zutrauen, seine Liebe sind die Energie,

die uns durch das vor uns liegende Jahr tragen wird.

Es gibt tatsächlich nichts,

was uns von dieser Liebe Gottes trennen kann.

Alle Katastrophen, alle Schicksalsschläge,

alles eigene und fremde Leid, das wir uns vorstellen können,

werden uns nicht von Gott und seiner Liebe scheiden.

Es wird immer ein Licht da sein,

das uns nach Hause leuchtet.


Am Ende des alten Jahres schenkt Gott uns seinen Sohn.

Mit ihm schenkt er uns alles.

Die Fülle von Gottes Liebe, die dieses Kind ist,

verdrängt und vertreibt alles Nichtige.

Nichts wird uns scheiden von der Quelle des Lebens,

von Gott und seiner unendlichen, unbedingten Liebe zu uns.