Samstag, 24. Dezember 2022

ein Traum wird wahr

Predigt in der Christnacht, 24.12.2022, über Ezechiel 34,25:

Ostheimer-Krippe mit Jesuskind, daneben ein Stück Tafelkreide


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Liebe Schwestern und Brüder,


die Weihnacht ist die Nacht der Wünsche.

Manche sind heute wahr geworden.

Es waren wohl vor allem die Wünsche der Kinder,

die sich heute erfüllten.

Wir haben uns mit ihnen gefreut,

als ihre Augen beim Auspacken leuchteten.

Sie spielen jetzt gerade noch mit ihren Geschenken,

oder schlafen mit der neuen Puppe,

dem neuen Schmusetier im Arm.


Was ist mit unseren Wünschen?

Haben die sich heute Nacht erfüllt?

Je älter man wird, desto weniger braucht man,

desto weniger wünscht man sich.

Man freut sich über ein selbst gemaltes Bild

von Kind oder Enkelkind,

man hat doch sonst alles - was sollte man noch brauchen?


Gleichzeitig werden die eigenen Wünsche unbescheidener:

Man wünscht sich Gesundheit - aber wer sollte die schenken?

Man wünscht sich Frieden - aber wer soll den bringen?

Man wünscht sich ein Ende des Streites, ein Ende der Einsamkeit,

ein Ende der Sorgen, der Krankheit, der Angst -

aber wer könnte sie herbeiführen?


Weil wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

haben wir zwar nicht aufgehört,

solche Wünsche insgeheim zu hegen.

Aber wir haben aufgehört, daran zu glauben,

dass sie sich erfüllen könnten.

Alle Erfahrungen, die wir gemacht haben -

die wir machen mussten - sprechen dagegen.


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Die Weihnacht ist die Nacht der Wünsche.

Wir haben die Weissagung des Propheten gehört

von einem Bund des Friedens,

von der Ausrottung des Bösen auf Erden,

von Sicherheit in Steppe und Wald.

Weil wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

haben wir sie zwar gehört,

aber wir glauben nicht daran.

Wie auch? Seit zehn Monaten erleben wir

quasi vor der eigenen Haustür,

wie sinnlos es scheint, auf Frieden zu hoffen.


Und doch ist Weihnachten einer der wenigen Tage im Jahr,

an denen wir wenigstens hinhören,

auch wenn wir es nicht glauben können.


Werden wir uns bewusst,

dass wir gerade einem Traum gelauscht haben,

fällt uns vielleicht auf, wie wir für einen Moment

die Sehnsucht gespürt haben, dieser Traum möchte wahr werden.

Wir erinnern uns wehmütig an andere Momente,

in denen diese Sehnsucht auch zu spüren war.


Wir haben nicht verlernt, zu träumen.

Und obwohl wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

brauchen wir den Traum.

Nicht nur des Nachts, um die Ereignisse des Tages zu verarbeiten.

Sondern auch den Tagtraum, der uns zeigt, was sein könnte.


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Der Prophet, der diese Wort aufschrieb, hat den Krieg erlebt.

Er hat Angst vor bösen Tieren empfunden -

vor Wölfen, Schakalen oder Löwen

und vor dem Menschen, der des Menschen Wolf ist.

Er hat sich ausgeliefert gefühlt in der Steppe,

wo man sich nirgends verstecken kann,

weil es weit und breit keinen Baum, keinen Strauch gibt -

so, wie wir uns heute den Algorithmen ausgeliefert fühlen,

der flächendeckenden Überwachung, der niemand entgeht.

Und er hat sich nach der Geborgenheit des Schlafes gesehnt

ohne das Dröhnen von Stiefeln auf dem Pflaster,

ohne das Geheul von Sirenen, ohne die Schüsse, die Explosionen.


Der Traum des Propheten macht deutlich,

wie unerträglich, wie leidvoll die Wirklichkeit ist.

Und er zeigt, was statt dessen sein könnte.

Er macht nicht nur schmerzlich bewusst, was fehlt,

sondern lässt auch sehen, was sein könnte.


Auch wir haben Träume,

die uns vor Augen führen, was wir nicht ertragen können,

nicht mehr länger ertragen wollen,

und die uns zeigen, was statt dessen sein könnte.


Auch Gott hat einen Traum.

Gott, der sich die Welt, der sich den Menschen erträumte,

sieht, wie der Mensch Wege geht, die seine Schöpfung zerstören;

sieht, wie der Mensch seine Mitmenschen behandelt:

Wie er sie ausnutzt, verachtet, verletzt und tötet.

Dieser Unmenschlichkeit des Menschen

setzt Gott seinen Traum entgegen:

das Kind in der Krippe,

das mit seiner Schwäche und Hilflosigkeit

unsere Liebe wecken soll. Unser Mitgefühl.

Das Kind, das uns eine neue Welt aufschließt:

das Reich Gottes,

eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit,

von der die Propheten sprachen,

von der auch wir einmal geträumt,

an die wir einmal geglaubt haben.


Sie fragen sich vielleicht schon die ganze Zeit,

was Sie mit dem Kreidestück tun sollen,

das Sie am Eingang bekommen haben.

Erinnern Sie sich? Als Kind hätten Sie keine Sekunde überlegt,

was man damit wohl anfängt:

Sie hätten auf die Straße ein Hüpfekästchen gemalt,

und schon hätte das Spiel begonnen.

Sie hätten Monster gezeichnet oder alberne Gestalten.

Sie hätten ihre Träume gezeichnet:

Ein Haus mit Garten und schiefem Schornstein,

ein Auto, ein Flugzeug.


Ein Kind kann sich mit einem Stück Kreide

viele Träume erfüllen.

Ich möchte Sie mit diesem Stück Kreide dazu einladen,

Ihren Träumen wieder zu trauen.

Nicht so erwachsen, nicht so vernünftig zu sein,

dass Sie nicht mehr an Träume glauben.´


Zu träumen bedeutet, Leid und Schmerz zu empfinden,

weil das Leben, die Welt nicht so sind, wie sie sein sollten.

Zu träumen bedeutet auch, zu sehen, wie es anders sein könnte:

Wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit

unter uns Gestalt gewinnt.


Machen Sie es wie damals, als Sie Kind waren:

Zeichnen Sie Ihren Traum, schreiben Sie ihn auf.

Wenn Sie das Kreidestück von heute Nacht

morgen oder übermorgen in Ihrer Tasche,

auf der Anrichte, auf dem Küchentisch wiederfinden,

erinnern Sie sich daran, zu träumen.

So, wie das Kind in der Krippe sich uns erträumt

als Menschen, fähig zu Liebe,

zu Vergebung, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit,

Großzügigkeit und Güte.


Im Traum des Kindes in der Krippe sind wir gut.

Wir brauchen es bloß noch zu werden. Amen.