Samstag, 10. Dezember 2022

unendliche Weiten

Predigt am 3. Advent, 11. Dezember 2022, über Jesaja 40,5:

Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.



Liebe Schwestern und Brüder,


„die Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen”, betet Salomo bei der Weihe des jerusalemer Tempels (1.Kön 8,27). Gott, so sagt es Salomos Gebet, ist noch größer als das Weltall, das doch unvorstellbar groß ist. Schon die Entfernung eines Lichtjahres kann man sich nicht vorstellen;

noch weniger die 78 Milliarden Lichtjahre, die das Universum groß sein soll.


Gott, weit größer als das Weltall, kommt auf die Erde, wird ein Mensch, ein winziger Punkt im Unendlichen. Wie soll man das begreifen? Vielleicht kann uns dabei ein Vergleich aus der Astronomie helfen: Physiker haben berechnet, wie groß der Punkt gewesen sein könnte, der kurz vor dem Urknall das darstellte, was später das Universum werden sollte mit all seinen Galaxien, Sonnen und Planeten. Sie errechneten, dass dieser Punkt etwa so groß gewesen sein müsste wie ein Mensch.


Bevor überhaupt etwas existierte, war das, was zu diesem „Etwas” werden sollte - Physiker sprechen von einer „Singularität” - etwa so groß wie ein Mensch. Ist das nicht ein wunderbarer Vergleich für die Menschwerdung Gottes?! In dem Kind in der Krippe kam Gott, der das Universum weit übersteigt, zu uns auf die Erde, „wohnte unter uns”, wie Johannes schreibt, „und wir sahen seine Herrlichkeit” (Joh 1,14).


„Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.”


Der allmächtige Gott gibt sich uns Menschen zu erkennen. Seine unvorstellbare Größe konzentriert sich in einer Singularität: einem Baby. Das ist ein wenig enttäuschend. Wenn Gott Mensch wird, müsste er Superman sein oder Wonderwoman. Gottes übermenschlichen Kräfte müssten diesem Supermenschen aus den Augen strahlen; sie müssten gleichsam aus jeder Pore quellen. Wie die Singularität kurz vorm Urknall müsste dieser Supermensch zum Bersten voll göttlicher Kraft sein.


Statt dessen liegt da in der Krippe ein hilfloses, schutzbedürftiges Baby. Ein Baby, angewiesen auf Liebe, Wärme, Rücksicht, Nahrung, Schutz und Freundlichkeit. Ein Kind, dessen Leben schon in den ersten Wochen bedroht ist. Wo ist sie geblieben, die gewaltige Größe, Energie und Macht Gottes?


Sie befindet sich in diesem Kind. Jede:r, die/der Mutter oder Vater geworden ist, die/der einen Säugling im Arm halten durfte, hat diese unglaubliche Macht gespürt: Ist dahingeschmolzen vor Liebe. Wurde augenblicklich ein besserer Mensch. Wuchs meilenweit über sich hinaus. Bekam übermenschliche Kräfte - konnte nächtelang ohne Schlaf auskommen, kilometerweit durch die Wohnung laufen, das schreiende Kind im Arm. Konnte Todesängste ausstehen, wenn irgendetwas mit dem Kind nicht stimmte, bis die Großeltern, eine Freundin oder die freundliche Kinderärztin Entwarnung gaben.


In einem Gedicht, das Benjamin Britten vertont hat, heißt es über das Kind in der Krippe:


„With tears he fights and wins the field,

his naked breast stands for a shield;

his battering shot are babish cries,

his arrows looks of weeping eyes,

his martial ensings Cold and Need,

and feeble flesh his warrior’s steed.”


Auf deutsch:


„Mit Tränen kämpft es und behält das Feld,

die nackte Brust dient ihm als Schild.

Mit seinen Schrein durchbricht es Wälle,

Tränenblicke sind seine Pfeile;

seine Standarten Frieren und Bedürftigkeit,

als Schlachtross dient sein schwacher Leib.”


Ja, ein hilfloses, kleines Kind hat unglaubliche Macht. Gerade weil es so zerbrechlich und bedürftig ist,

weckt es das Beste in uns. Das ist Gottes Herrlichkeit. Nicht das Übermenschliche, das Wunderbare, Großartige und Außergewöhnliche. Sondern die schlechthinnige Abhängigkeit, das bedingungslose Vertrauen auf das Gute im Menschen, auf unsere Liebe.


Gottes Herrlichkeit ist es, weil es eine Singularität ist: Nie zuvor und nie wieder hat Gott sich in unsere Hände gegeben - im vollen Bewusstsein, dass „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf” (Gen 8,21). Und doch voller Zuversicht, dass sein Vertrauen unsere Liebe wecken wird. Unsere Liebe ist die Resonanz der Liebe Gottes zu uns, der Wiederhall, das Mitschwingen, das Echo von Gottes Liebe. Seine Liebe ist stärker als aller Hass, alle Gemeinheit, alle Gewalt; stärker sogar als der Tod.


Gott offenbart uns seine Herrlichkeit jeden Tag. Immer dann, wenn wir uns bewusst werden, dass wir abhängig sind und dass das nichts Schlechtes ist, sondern der Weg Gottes, uns seine Herrlichkeit zu zeigen. Wir erfahren Gottes Herrlichkeit in der schlechthinnigen Abhängigkeit, in der wir Menschen auf diesem Planeten leben. Wir sind abhängig von einander, anhängig von anderen; wir sind abhängig von unseren Mitgeschöpfen, den Tieren und Pflanzen, abhängig von unserer lieben Mutter Erde, diesem so wunderbaren und so zerbrechlichen blauen Planeten.


Wer diese Abhängigkeit leugnet und nicht wahrhaben will; wer meint, seinen Weg allein gehen zu können oder zu sollen, trennt sich nicht nur von seinen Mitmenschen, nicht nur von der Schöpfung, sondern auch vom Schöpfer.


Wiederum gibt Gottes Herrlichkeit sich uns zu erkennen, wo uns angesichts eines Kindes das Herz aufgeht. Wo wir uns unsere eigene Schwäche eingestehen und Hilfe annehmen können. Wo wir die Schwäche anderer nicht ausnutzen, sondern ihnen helfen, daraus eine Stärke werden zu lassen.


Eines Tages, so verheißt es Jesaja, werden alle Menschen das begreifen. Bis dahin erinnert uns alle Jahre wieder das Christus-Menschenkind daran, wo Gottes Herrlichkeit zu finden ist.