Sonntag, 15. Januar 2023

Ansichtssache

Predigt am 2.Sonntag nach Epiphanias, 15.1.2023, über Exodus 33,18-23


Liebe Schwestern und Brüder,


„Ich will sehen!”

Der Held erwidert das Gebot des Gangsters

und schiebt seinen Stapel Spielmarken in die Mitte des Tisches.

Alle anderen sind schon ausgestiegen,

haben einer nach dem anderen wütend oder enttäuscht

ihre Karten auf den Tisch geworfen.

Nur die beiden sind noch übrig.

Unbeweglich starrt einer in die Augen des anderen.

Unser Held versucht, im Gesicht seines Gegners zu lesen:

Sind seine Karten so gut, wie er glauben machen will,

oder blufft er?

Aber das Gesicht des Gangsters bleibt undurchschaubar.

Unserem Held bleibt nichts übrig,

als aufs Ganze zu gehen und seinen Einsatz zu wagen:

„Ich will sehen!”


Im Spielfilm „Tatsächlich Liebe”,

der inzwischen zu den Kultfilmen an Weihnachten gehört,

ist Emma Thompson neugierig,

was ihr Mann in der Juwelierabteilung des Kaufhauses erstanden hat.

In seiner Manteltasche entdeckt sie eine Schachtel

in der Größe einer CD, darin eine Goldkette

mit einem goldenen Herzen daran.

Beseelt und beglückt schiebt sie die Schachtel zurück in die Manteltasche.

Doch als sie bei der Bescherung das CD-große Päckchen auspackt,

ist darin - - - tatsächlich nur eine CD.

Die Kette, das wird ihr nun bewusst,

war für eine Andere bestimmt.


„Ich will sehen!”

Mose begehrt, Gottes Herrlichkeit zu schauen.

Er hat Todesängste ausgestanden,

als er vor den Pharao trat,

um die Freiheit des Volkes Israel zu fordern;

er spürte sie während der Flucht,

als die ägyptischen Truppen ihnen auf den Fersen waren;

und er erlebte sie angesichts des wütenden Volkes,

das gegen ihn aufbegehrte.

Mose ertrug die Vorwürfe und das Misstrauen der Israeliten,

die ihre Freiheit mit Füßen traten,

sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchten,

und sich nach dem alten System zurücksehnten.

Und er musste erleben,

wie die Israeliten, Gottes erwähltes Volk,

berufen dazu, im Land ihrer Väter in Gottes Nähe zu leben,

diese Erwählung wegwarfen für ein goldenes Stierbild.

Sie trauten einem Gott nicht, den man nicht sehen kann.


Mose möchte Gott sehen.

Vielleicht erwartet er eine Belohnung für sein Durchhalten,

für all das, was er auf sich genommen und ertragen hat.

Wer hätte es mehr verdient als er?

Vielleicht hat Mose sich auch verunsichern lassen.

Alle tanzen ums Goldene Kalb.

Er steht mit seinem Glauben allein.

Was, wenn er sich irrt, und die Mehrheit im Recht ist?


Diese Unsicherheit ist uns nicht fremd.

Wir kennen Situationen, in denen wir uns wünschen,

wir könnten sehen, ob es stimmt, was wir glauben.

Bereits in den 80er Jahren wusste man

um den Zusammenhang von CO2-Ausstoß und Erderwärmung.

Schon damals war klar, dass es zu einem steigenden Meeresspiegel,

zu einer Zunahme der Wetterextreme und der Dürren kommen würde.

Aber es war davon nichts zu sehen.

Mit der Forderung: „Ich will sehen!”

wurden diese Schlussfolgerungen beiseite gewischt.

Heute, wo wir die Folgen sehen, wünschen wir,

wir hätten damals geglaubt und ernst genommen,

was noch nicht zu sehen war.


Gott verweigert Mose das Sehen.

Er lässt ihn das Gute sehen, das er bewirkt hat.

Er lässt ihn seinen Namen wissen.

Dann speist er ihn scheinbar ab mit den Worten:

„Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig,

und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.”

Diese Sätze sind ein Zirkelschluss.

Sie beweisen gar nichts; sie scheinen nur die patzige Antwort zu sein:

„Ich bin eben so, wie ich bin - komm damit klar!”

Tatsächlich aber stehen im Hebräischen zwei Zeitformen da.

Die erste drückt eine abgeschlossene Handlung aus:

„Wem ich gnädig war”,

die zweite eine offene oder zukünftige:

„dem werde ich gnädig sein,

und wessen ich mich erbarmte,

dessen werde ich mich erbarmen.”


Mit diesen Worten sagt Gott nichts anderes,

als dass man sich auf ihn verlassen kann:

Gott hält seine Zusage und nimmt sie nicht zurück.

Das ist besonders bemerkenswert,

weil im Kapitel zuvor geschildert wird,

wie die Israeliten genau das tun:

Sie kündigen den Bund auf,

den sie mit Gott geschlossen hatten,

und machen sich einen eigenen Gott: Das goldene Kalb.

Damit wenden sie sich nicht nur von Gott ab,

sie geben ihm sozusagen auch noch einen Tritt.

Trotzdem bleibt Gott bei seinem Versprechen.


Als Mose Gott sehen will,

erinnert Gott ihn an die Rettung aus Ägypten -

das Gute, das er für das Volk Israel tat.

Er nennt Mose den Namen,

mit dem man ihn anreden und zu ihm sprechen kann.

Und an seinen Bund, den er niemals brechen wird.


Mose würde trotzdem gern Gottes Antlitz sehen.

Auch das ist uns nicht fremd:

Wir versuchen, im Gesicht eines anderen Menschen zu lesen:

Wie hat sie das gemeint?

Was hält er von mir?

Was denkt sie über mich?

Dabei sucht man nicht nach der Bestätigung dafür,

dass die Beziehung, die ja besteht, tatsächlich existiert;

dass die Liebe, die man spürt, tatsächlich da ist.

Sondern man sucht nach Gründen für das Misstrauen,

für den Zweifel an der Zuneigung, der Liebe des anderen.


Gott lässt das nicht mit sich machen.

Gott verweigert sich dem Zweifel, dem Misstrauen.

Das bedeutet nicht, dass er Zweifel und Misstrauen nicht zuließe -

er erträgt das Murren des Volkes,

er verzeiht ihnen den Tanz ums Goldene Kalb.

Gott verhindert, dass wir diesen Zweifel in Gott selbst hineinlegen,

ihm Falschheit unterstellen

oder einen Wechsel seiner Einstellung zu uns,

die wir in den Gesichtern anderer zu lesen meinen.

Gott verweigert das Sehen.

Gott verlangt Vertrauen.


Vertrauen ist das Fundament jeder Beziehung.

Liebe kann man nicht sehen, sie lässt sich nicht beweisen.

Man sieht das Gute, das durch sie entstand.

Man hat einen Namen, mit dem man den Menschen anreden kann,

der auf einen hört, der einem zuhört.

Und man hat ein Versprechen, dass dieses Vertrauen begründet ist.


Leider brechen wir dieses Versprechen manchmal.

Doch auch die Tatsache,

dass wir unser Versprechen manchmal nicht halten können,

ist kein Grund, die Liebe an sich anzuzweifeln.


Gott dagegen bricht sein Versprechen niemals.

Auch wenn zu allen Zeiten Theologen versucht haben,

ihm das zu unterstellen:

Sie drohten damit, dass unsere Sünde, unsere Schuld

uns von Gott trennen würden.

Aber „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen”

(Römer 11,29).


Auch das ist eine Herausforderung an unser Vertrauen.

Wir sind eher geneigt, das Schlechteste von anderen anzunehmen,

auch von Gott, als darauf zu vertrauen,

dass Gott es gut mit uns meint.


Gott weiß um diese Schwäche,

wie er Verständnis für Moses Schwäche hatte.

Es ist die Schwäche, dass es uns so schwer fällt,

auf das Wort zu vertrauen, das Gott uns gab -

besonders, wenn wir Schweres, wenn wir Leid erleben.

Dann denken wir, dass Gott dieses Wort -

sein Ja, seine Liebe zu uns -

zurückgenommen, dass er es bereut hat.

Wir meinen, wir seien schuld daran,

durch etwas, das wir getan, gesagt oder gedacht haben.

Oder wir denken, dass Gott grausam ist:

dass er uns durch Strafe „erziehen” will.


Darum ließ Gott dieses Wort - sein Ja, seine Liebe zu uns -

Mensch werden:

Damit wir es glauben. Und lernen, darauf zu vertrauen.

Jesus kam in die Welt,

damit wir darauf vertrauen können,

dass Gott mit uns im Bunde ist.

Vertrauen können darauf,

dass Gott es gut mit uns meint

und nur Gutes für unser Leben im Sinn hat.

„Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus,

war nicht Ja und Nein,

sondern es war Ja in ihm.´

Denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja;

darum sprechen wir auch durch ihn das Amen,

Gott zum Lobe” (2.Korinther 1,19f).