Sonntag, 29. Januar 2023

Glaube und Alltag

Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias, 29. Januar 2023, über Matthäus 17,1-9

Liebe Schwestern und Brüder,

was macht ein Leben aus? Was macht ein Leben zu einem guten, einem erfüllten Leben? In dieser Frage sind wir alle Expert:innen. Entweder, weil wir ganz zufrieden sind mit unserem Leben. Oder weil wir gerade unzufrieden sind, ganz genau wissen, was uns fehlt, was sich ändern müsste.

Was macht ein Leben aus? Diese Frage lässt sich erst im Nachhinein beantworten. Erst im Rückblick auf gelebtes Leben stellt sich heraus: Es sind die besonderen Ereignisse, die ein Leben ausmachen, die Hoch-zeiten und Höhepunkte eines Lebens, die Gipfelerlebnisse. Zumindest sind sie die interessanten, die erzählenswerten. Wen interessiert schon der Alltag, die eintönige Ebene der ständig wiederkehrenden Aufgaben und Pflichten: Essen machen, Gassi gehen, Blumen gießen, Rasen mähen Wäsche waschen, bügeln, aufräumen und putzen? Die tägliche Fahrt zur Arbeit, der berufliche Alltag? Viel spannender sind da doch die Urlaubsreise, der runde Geburtstag, das Miterleben eines besonderen Ereignisses: Sie heben sich als Höhepunkte aus dem flachen Einerlei heraus wie Berge, die man nicht übersehen kann – und die man auch nicht so bald vergisst.

Mit dem Glauben ist es nicht anders. Was uns da beflügelt, was uns erfüllt sind besondere Erfahrungen und Erlebnisse: Ein besonders schön gestalteter Gottesdienst. Eine Hochzeit, eine Taufe. Ein gutes Wort zur rechten Zeit. Die mitreißende Atmosphäre eines Kirchentages, oder die innige Andacht eines kleinen Kreises von Gleichgesinnten. Das Erlebnis eines wunderbaren Kirchraums oder einer besonders schönen geistlichen Musik. Auch hier sind es die Gipfelerlebnisse, an denen sich unser Glaube entzündet, an denen wir spüren, was wir am Glauben haben. Nicht umsonst sind es Berggipfel, auf denen sich Menschen Gott besonders nah fühlen.

Von solch einem Erlebnis auf einem Berggipfel erzählt das heutige Evangelium: Drei Jünger werden auserwählt, mit Jesus auf einen Berg zu steigen. Und wir, als Zuhörer:innen, dürfen mitkommen. Wir dürfen Zeug:innen eines besonderen Geschehens sein: Wie sich Jesus auf dem Gipfel verwandelt, wie ein Leuchten von ihm ausgeht, und wie sich zwei große Gestalten des Glaubens – Mose und Elia – zu ihm gesellen. Was gäbe man darum, einmal solch eine Erfahrung machen zu können! Und dann ertönt auch noch die Stimme Gottes selbst: "Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!"

Auch wenn wir nie etwas Derartiges erleben werden – allein der Bericht ist faszinierend. Geeignet, einem etwas schwerfällig gewordenen Glauben neuen Schwung zu verleihen.

Der Berg in der Geschichte von der Verwandlung oder Verklärung Jesu steht also auch für ein religiöses Gipfelerlebnis, für eine ganz besondere Gotteserfahrung. Schon am Anfang der Geschichte findet sich ein Hinweis, dass etwas bevorsteht, das nicht alltäglich ist: "Nach sechs Tagen ..." heißt es da. Nach sechs Tagen, am siebten Tag, ist Sonntag – so wie heute. In meiner Kindheit war das für uns ein Tag, der anders war als die Wochentage: Es gab etwas Gutes zu essen, und oft machte die Familie einen Ausflug, einen gemeinsamen Spaziergang. Der siebte Tag, der Sonntag, hebt sich heraus aus dem Alltag. Vielleicht kein Gipfel. Aber ein Hügel, eine Erhebung schon, von der man etwas Außergewöhnliches erwarten darf.

Wir werden nicht enttäuscht. Diese Geschichte hat alles, was zu einem Gipfelerlebnis des Glaubens gehört. Darum möchte Petrus so gern Hütten auf dem Berg bauen: Er möchte bleiben und dieses Licht nie mehr verlassen. Er möchte sie festhalten, diese besondere Gottesnähe.

Aber als dann Gott tatsächlich nahe ist und mit ihnen redet, ist es für die Jünger zuviel der Gottesnähe. Sie bekommen es mit der Angst und werfen sich zu Boden. Als sie wieder aufblicken, ist alles vorbei. Mose und Elia sind verschwunden. Das Licht erloschen. Die Stimme schweigt.

Alles vorbei. Aber Jesus ist noch bei ihnen, in seiner gewöhnlichen, alltäglichen Gestalt. Und in dieser gewöhnlichen, alltäglichen Gestalt – nicht in Glanz und Glorie – kommt er seinen Jüngern nahe: "Er rührte sie an", heißt es im Evangelium, und nimmt ihnen die Angst.

Ob das der eigentliche Grund ist, warum diese Geschichte erzählt wurde und immer noch erzählt wird: Um uns, wenn wir auf der Suche nach einer Glaubenserfahrung, nach einem besonderen religiösen Erlebnis sind, zu zeigen, wo sie tatsächlich zu finden sind? Offenbar nicht auf den Gipfeln. Sondern dann, wenn der Alltag, der graue Alltag, uns wieder hat. Im eintönigen, schlichten, langweilig-grauen Alltag rührt Jesus uns an.

Das kann man sich kaum vorstellen. Sind die religiösen Erlebnisse nicht ohnehin selten? Wie sollen sie dann ausgerechnet im Alltag zu finden sein? Wie sollen wir Jesus, den wir nicht mehr leibhaftig, "live" unter uns erleben können, ausgerechnet in alltäglichen Begegnungen erkennen?

Sicher, es sind die "Highlights", die Gipfelerlebnisse, die die Höhepunkte unseres Lebens bilden. Sie bilden den Stoff der Geschichten, die wir uns selbst immer wieder erzählen, und die wir einmal unseren Enkeln erzählen.

Aber die Geschichte unseres Alltags ist es auch wert, erzählt zu werden. Denn wenn man genau hinschaut, passieren die wirklich wichtigen Dinge in diesen kleinen Alltagsszenen. Z.B. die Geschichte, wie Mutter oder Vater abends am Bett eine Gutenachtgeschichte vorlesen; die Geschichte, wie die Oma das weinende Kind tröstet mit einem Streicheln ihrer Hand, einem Stück Schokolade; die Geschichte, wie der Partner das Aufstehen mit einem frischen Kaffee ans Bett erleichtert. Oder die Geschichte, wie Nachbarn selbstverständlich ihre Hilfe anbieten, ohne dass man sie darum bitten musste.

So viele Geschichten. Jeder und jedem von Ihnen werden welche einfallen. So viele Geschichten, die nicht erzählt werden, weil sie jeden Tag geschehen, weil sie uns alltäglich erscheinen. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie etwas Besonderes sind, ganz und gar nicht selbstverständlich. In ihnen, in diesen unscheinbaren, alltäglichen Begegnungen, rührt uns etwas an – rührt uns einer an, den wir in dem Moment gar nicht erkannten. Wenn wir darüber nachdenken, kommt ein Leuchten in unser Gesicht. Ein Abglanz jenes Leuchtens, wie es auch die Jünger sahen.