Sonntag, 5. Februar 2023

in der Barmherzigkeit liegt die Kraft

Predigt am Sonntag Septuagesimae, 5.2.2023, über Matthäus 9,9-13

Jesus sah jemanden namens Matthäus im Zollamt sitzen und sprach zu ihm: Folge mir!

Und er stand auf und folgte ihm.

Und als er im Haus zu Tische lag, da kamen viele Zolleinnehmer und Sünder und aßen mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Lehrer mit Zolleinnehmern und Sündern?

Als der das hörte, sprach er: Die Gesunden haben den Arzt nicht nötig, sondern die Kranken.

Geht aber und lernt, was das bedeutet: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opferhandlungen.”

Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder.



Liebe Schwestern und Brüder,


zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens

kamen wir zum Glauben.

Selten wird das ein klar zu benennendes Datum gewesen sein.

Eher eine Entwicklung über einen langen Zeitraum,

an dessen Ende die Überzeugung stand,

von Jesus gerufen worden zu sein.

Wohl kaum wie bei Matthäus,

wo Jesus den Zollverwalter beim Namen ruft

und in die Nachfolge beruft.

Wir hörten nicht Jesus unseren Namen rufen.

Eher fühlten wir uns irgendwann einmal gedrängt,

ernsthaft über den Glauben nachzudenken, und was er bedeutet.

Ob er nicht Konsequenzen haben müsste, und welche das sein könnten.

Das war unsere Stunde der Berufung.


Und nun hören wir diesen Satz Jesu:

„Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder.”

Soll das heißen:

Wir, die wir den Ruf Jesu an uns empfunden haben,

sind alle Sünder:innen?


Mit Paulus wird man das bejahen müssen:

Wir sind „allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes”,

den wir bei Gott haben sollten (Römer 3,23).

Sünde ist nach Paulus nichts,

was man grundsätzlich verhindern,

dauerhaft bleiben lassen könnte.

Es gehört zu unserem Menschsein wie die Tatsache,

dass wir sprechen und denken können.

Aber wenn das Sünder-Sein etwas allgemein Menschliches ist,

dann unterscheiden sich die Sünder:innen nicht mehr von den Gerechten,

weil ja alle Sünder:innen sind.


Matthäus scheint Sünde anders zu verstehen als Paulus.

Hier, bei diesem Zöllner-Gastmahl,

scheint Sünde etwas ganz Konkretes zu sein.

Jesus vergleicht die Sünde mit einer Krankheit:

„Die Gesunden haben den Arzt nicht nötig, sondern die Kranken.”

Wenn Sünde wie eine Krankheit ist,

kann man davon geheilt werden -

Jesus kann eine:n offensichtlich davon heilen -

und dann möchte man auch davon geheilt werden.

Wer will schon gerne krank sein?


Es gibt also einmal unser allgemeines Sünder-Sein,

und dann diese spezielle Sünde,

die nicht auf alle zutrifft,

sondern nur auf - - - ja, auf wen trifft sie zu?

Folgen wir Matthäus, dann sind es die, die Jesus ruft:

die Kranken, wie er sie nennt.

Sehen wir uns an, wer das ist, den Jesus ruft:


Da sind zum einen die Zolleinnehmer.

Die waren zur Zeit Jesu regelrecht verhasst.

Sie hatten den Zoll von der römischen Besatzungsmacht gepachtet,

zogen im Auftrag der Römer

ihren Mitmenschen das Geld aus der Tasche

und machten dabei einen schönen Gewinn -

zum Schaden ihrer Mitbürger.

Die waren nicht nur wegen ihres sauer verdienten Geldes

sauer auf die Zolleinnehmer.

Sie verachteten sie auch,

weil sie mit dem Feind gemeinsame Sache machten.


Und dann gibt es da noch die, die nur „Sünder” heißen.

Was sie wohl taten, dass sie sich diesen Titel erwarben?

Sie waren wegen ihres Lebenswandels

oder wegen eines schweren Vergehens

aus der Gemeinde ausgeschlossen worden.

Sie durften nicht mehr am Gottesdienst in der Synagoge teilnehmen.

Sie wurden geschnitten.

Mit solchen Leuten verkehrte man nicht.


Zöllner und Sünder waren Personen,

die außerhalb der Gemeinschaft standen und lebten.

Darum ist es bemerkenswert,

dass Jesus ihre Gesellschaft sucht.

Jesus bekräftigt seine Hinwendung zu den Ausgestoßenen,

indem er mit ihnen gemeinsam isst.

Die Mahlgemeinschaft stellt noch einmal

eine besondere Form der Gemeinschaft dar,

wie auch wir sie beim Abendmahl erleben.

Und gerade diese Leute,

mit denen keiner sonst etwas zu tun haben will,

beruft Jesus dazu, seine Nachfolger:innen zu werden.

„Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen,

sondern Sünder.”


Was haben wir Nachfolger:innen Jesu mit solchen Leuten gemein?

Wir geben niemandem Grund, uns zu schneiden,

uns aus der Gemeinde, vom Gottesdienst auszuschließen.

„Kirchenzucht”, wie man das früher nannte,

gibt es bei uns schon lange nicht mehr, im Gegenteil:

heute und hier sind alle ausnahmslos willkommen.

Niemand ist ausgeschlossen,

und niemand soll sich ausschließen müssen.


Wenn Jesus aber nun einmal die Sünder beruft, nicht die Gerechten,

wie passen wir da hinein?


Vielleicht müssen wir die Antwort auf diese Frage

auf der anderen Seite suchen: auf der Seite der Gerechten.

Was bedeutet denn „gerecht”?

Ein Gerechter ist jemand, der Gerechtes tut.

Nicht im juristischen Sinne jemand,

der sich an Recht und Gesetz hält.

Sondern im Sinne des Glaubens jemand,

der nach Gottes Willen fragt.

Und Gottes Wille lautet:

„Barmherzigkeit will ich, nicht Opferhandlungen”.


Worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden?

Barmherzigkeit wende ich anderen Mitmenschen zu.

Und manchmal gelingt es mir sogar,

mit mir selbst barmherzig zu sein.

Opferhandlungen gelten ausschließlich Gott,

den man damit versöhnlich stimmen

oder für sich einnehmen will.


Wir bringen heute keine Opfer mehr wie zur Zeit Jesu,

als man Tiere schlachtete

und etwas von ihrem Fett auf einem Altar verbrannte,

Gott zu einem lieblichen Geruch (1.Mose 8,21).


Trotzdem bringen auch wir Opfer.

Viele von uns bringen sich selbst zum Opfer dar:

Opfern sich auf für andere.

Opfern ihre Träume.

Opfern Zeit und Geld.


Vor allem machen wir andere zu Opfern.

Wir opfern Menschenleben.

Zum Beispiel die Leben von Menschen, die im Mittelmeer ertrinken,

weil wir ihnen keinen Anteil an unserem Wohlstand gönnen wollen.

Die Leben von Menschen, die im Jemen verhungern,

weil wir unsere Leopard-Panzer nach Saudi Arabien exportieren,

das eine der Kriegsparteien im Jemen ist.

Wir opfern die Zukunft unserer Kinder,

weil wir unbedingt mit 180 auf der Autobahn rasen müssen

und unseren Lebensstil, der so viel Kohlendioxid produziert,

nicht ändern wollen.


Gott will diese Opfer nicht.

Gott möchte Barmherzigkeit von uns.

Doch die ist so schwer, so furchtbar schwer.

Sie bedeutet, dass wir über unseren Schatten springen müssen.

Sie bedeutet, dass wir unser Recht, unser Rechthaben

und unsere Selbstgerechtigkeit aufgeben müssen,

wenn es darum geht, mit anderen Menschen mitzufühlen.

Denn um barmherzig sein zu können,

muss man warmherzig sein:

sich in andere hineinversetzen.

Mit ihnen fühlen in ihrer misslichen Lage,

sich vorstellen, was ihnen fehlt und was sie jetzt brauchen.

Barmherzigkeit erfordert auch,

dass man sich ab und an selbst zurücknimmt,

anderen auch mal den Vortritt, den Vorteil lässt,

damit auch sie an die Reihe und zu ihrem Recht kommen.


Jesus hat uns vorgemacht, wie das geht,

indem er die Menschen aufsuchte,

mit denen niemand etwas zu tun haben wollte.

Lukas erzählt in einer ähnlichen Geschichte,

der von dem Zöllner Zachäus,

dass diese Zuwendung Jesu den Zöllner verändert hat:

Zachäus gab zurück, was er den Leuten weggenommen hatte

und änderte sein Leben.


In der Barmherzigkeit liegt eine gewaltige Kraft,

die Menschen verändern kann, vielleicht sogar die Welt.

An dieser Kraft erhalten wir Anteil,

wenn wir uns trauen,

unsere Gerechtigkeit nicht selbst herzustellen,

indem wir uns und andere opfern,

sondern sie von Gott zu erwarten,

der sie uns aus Gnaden schenken will.

An dieser Kraft erhalten wir Anteil,

wenn wir Sünder:innen nicht ausgrenzen,

sondern erkennen, dass sie sind wie wir.


Ob wir den Mut finden, das einmal zu versuchen?