Samstag, 7. Januar 2023

Gottes menschgewordene Zuwendung

Ansprache an Epiphanias, 6.1.2023, zur Jahreslosung 1.Mose 16,13

Die Jahreslosung steht im 1. Buch Mose im 16. Kapitel

am Schluss der Geschichte von Hagar und Ismael:


Abrams Frau Sarai hatte keine Kinder bekommen.

Sie hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar.

Sarai sagte zu Abram:

„Der Herr hat mir Kinder verweigert.

Geh doch zu meiner Magd!

Vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen.”

Abram hörte auf Sarai.

So gab Sarai ihrem Mann Abram

ihre ägyptische Magd Hagar zur Nebenfrau.

Abram wohnte damals schon zehn Jahre im Land Kanaan.

Er schlief mit Hagar, und sie wurde schwanger.

Als sie merkte, dass sie schwanger war,

sah sie auf ihre Herrin herab.

Da sagte Sarai zu Abram:

„Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld.

Ich war es doch,die dir meine Magd gegeben hat.

Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab.

Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden!”

Abram antwortete Sarai:

„Sie ist deine Magd und in deiner Hand.

Mach mit ihr, was du für richtig hältst.”

Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht,

dass diese ihr davonlief.


Ein Engel des Herrn fand Hagar

an einer Wasserquelle in der Wüste.

Sie war am Brunnen auf dem Weg nach Schur.

Der Engel fragte: „Hagar, du Magd Sarais,

wo kommst du her und wo gehst du hin?”

Sie antwortete:

„Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.”

Da sagte der Engel des Herrn zu ihr:

„Kehre zu deiner Herrin zurück

und ordne dich ihr unter!”

Weiter sagte der Engel des Herrn zu ihr:

„Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen,

dass man sie nicht zählen kann.”

Der Engel des Herrn fügte hinzu:

„Du bist schwanger

und wirst einen Sohn zur Welt bringen.

Den sollst du Ismael, ‚Gott hat gehört’, nennen.

Denn der Herr hat dich gehört,

als du ihm deine Not geklagt hast.

Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel.

Er wird mit allen im Streit liegen

und getrennt von seinen Brüdern wohnen.”


Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte,

den Namen El-Roi, das heißt:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”

Denn sie sagte: „Ich sah hinter dem her, der mich ansah.”



Liebe Schwestern und Brüder,


„du hast die Niedrigkeit deiner Magd angesehen”,

singt Maria, die mit Jesus schwanger ist (Lukas 1,48).

Hannah, die sich so sehr ein Kind wünscht, verspricht:

„Herr, wirst du das Elend deiner Magd ansehen,

so will ich dir meinen Sohn geben.” (1.Samuel 1,11)

Und Hagar, mit Ismael schwanger, bekennt:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”


Drei Frauen in „froher Erwartung”, wie man sagt.

Sie sprechen davon, dass Gott sie ansah

in ihrem Elend, in ihrer Niedrigkeit.

Bei Maria ist es ihre Jugend

und vielleicht auch ihre arme Herkunft,

durch die sie keinen gesellschaftlichen Status hat.

Hannah ist bedrückt, dass ihre Nebenbuhlerin

ihrem Mann zwei Söhne geboren hat,

sie aber nicht schwanger wird.

Bei Hagar ist es umgekehrt: Sie wird schwanger,

aber Sarai, Abrams Frau, ekelte sie aus dem Haus,

schickte sie in die Wüste, im wahrsten Sinne des Wortes.


Die drei Frauen fühlen sich von Gott angesehen.

Dafür sind sie Gott dankbar, darauf sind sie stolz.

Was ist daran so besonders,

und wie ist dieses Gesehenwerden durch Gott zu verstehen?


Von Gott angesehen zu werden ist mehr als ein bloßes Sehen.

Wie oft sieht man, ohne wirklich zu sehen!

Wie sollte man auch beim Gang durch die Stadt

all die Menschen wahrnehmen, die einem begegnen?

Aber auch im Freundeskreis,

auch Zuhause sieht man sich manchmal nicht an.

Man ist mit den Gedanken woanders,

während andere vielleicht darauf warten, angesehen zu werden.


Hinsehen erfordert Initiative.

Im Hinsehen liegt eine Bewegung:

Ich wende mich der anderen, ich wende mich dem anderen,

ich wende mich dir zu.

Diese Hinwendung bewirkt eine Konzentration:

Ich lasse sein, was ich eben noch tat

und widme mich dir, um zu erfahren, wie es dir geht.


Die Hinwendung zu einem anderen Menschen

ist mehr als eine Körperbewegung,

eine Drehung hin zum anderen.

Das Hinwenden zum anderen, die Zu-wendung,

bedeutet Sympathie, Mitgefühl.


So haben im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,29-37)

die zwei Vorübergehenden den Menschen,

der unter die Räuber gefallen war,

gar nicht wahrgenommen.

Sie waren mit ihren Gedanken woanders, sahen nicht hin.

Der dritte, der Samariter, sah hin und half dem Verletzten,

versorgte seine Wunden und sorgte für seine Pflege.


Ihn macht Jesus uns zum Vorbild,

weil auch Gott einer ist, der hinsieht.

Gott ist „ein Gott, der mich sieht”.

Gott nimmt wahr, wie es uns geht.

Gott empfindet mit, woran oder worunter wir leiden.

Gott hält aus, was andere nicht aushalten,

was wir selbst oft nicht aushalten können.


Gott sieht auch, was wir nicht sehen können

oder nicht sehen wollen:

Unseren Irrtum, unsere Verstrickung, unsere Schuld.

Gott verurteilt uns nicht dafür.

Gott sieht und erträgt für uns,

was wir nicht ansehen möchten.

Dadurch können auch wir unsere Schattenseiten

wahrnehmen und wahrhaben,

ohne sie verleugnen, abstreiten zu müssen.


Gott sieht schließlich auch das,

was wir gern unter viel Stoff verstecken würden,

was wir an unserem Körper nicht mögen, nicht schön finden,

was uns peinlich ist, wofür wir uns schämen.

Gott sieht uns freundlich an, so, wie wir sind.

Von Gottes Blick können wir lernen,

uns selbst freundlich anzusehen, wie Gott es tut;

uns gern zu haben und schön zu finden.


Hagar, die von Sarai Unrecht erlitt, sodass sie weglief,

war sicher selbst kein Engel.

Sie war nicht so vorbildlich,

dass sie Gottes Zuwendung mehr verdient hätte als andere.

Gott sieht sie trotzdem an.

Gott sieht hinter das, was vorgefallen ist,

was sie erlitten und getan hat.

Gott sieht sie weder als Opfer noch als Täterin.

Gott sieht sie als Hagar.

Und Hagar spürt, dass Gott sie ansieht:

„Ich sah hinter dem her, der mich ansah.”

Darum bekennt sie:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”


Heute, an Epiphanias, lassen wir uns erinnern

an diese hilfreiche Zuwendung Gottes,

die Hagar, Hannah und Maria erlebten.

Die Zuwendung Gottes bestand darin,

dass diese Frauen schwanger wurden.

Sie brachten ein Kind zur Welt,

das diese Zuwendung Gottes verkörperte:

Ismael, auf den sich heute Musliminnen und Muslime

als ihren Stammvater berufen;

Samuel, der ein Prophet und Richter für Israel war,

und Jesus, der Gottes Geschenk an uns alle ist.


Gottes Zuwendung nimmt Gestalt an.

Gottes Zuwendung zu uns wurde Mensch.

Jesus ist diese Mensch gewordene Zuwendung Gottes

zu uns und allen Menschen.

In Jesus sieht Gott uns an.

Sein Blick ruht freundlich auf uns und liebevoll.

Unter Gottes liebevollem Blick,

den Jesus Christus verkörpert,

können wir uns und unser Leben annehmen.

Unter Gottes liebevollem Blick

gehen wir in dieses neue Jahr in der Gewissheit,

dass Gott sich uns auch in diesem Jahr zuwenden wird

mit seiner Liebe, seiner Vergebung und seinem Segen, denn:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.” Amen.