Sonntag, 1. Januar 2023

heute

Predigt am Neujahrstag, 1.1.2023, über Lukas 4,16-21


Liebe Schwestern und Brüder,


heute ist der erste Tag des neuen Jahres.

Mit diesem Tag, der gerade erst begonnen hat,

liegen 365 Tage vor uns - eine weite Fläche Zeit.

Wenn es 365 Steine wären, könnte man damit schon etwas bauen;

365 Knäuel Wolle - wie viele Socken oder Pullover gäbe das!

365 Blatt Papier sind schon ein Roman …


Andererseits sind vom ersten Tag des neuen Jahres

bereits mehr als zehn Stunden vergangen!

Ehe man sich’s versieht, werden die Tage wieder länger.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter

folgen uns im Sauseschritt - - -

und dann ist auch schon wieder Weihnachten!


Ich will mit Ihnen heute nicht darüber nachdenken,

ob das Glas halb voll oder halb leer ist -

ob wir jede Menge Zeit vor uns haben,

oder ob sie uns zwischen den Fingern zerrinnt.

Wahrscheinlich beides.

Ich möchte heute mit Ihnen über „heute” nachdenken,

über den Satz, den Jesus zum Schluss seiner Lesung sagt:

„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren.”


Ein englisches Wortspiel lautet:

„Yesterday is history, tomorrow is a mystery,

but today is a gift. That is why it is called ‚present’.”

Man kann das Wortspiel im Deutschen leider nicht wiedergeben.

So ungefähr lautet es:

„Das Gestern ist Geschichte, das Morgen nur Gerüchte,

doch das Heute ist die Gegenwart.

Und die zu erleben, ist ein Geschenk.”


„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren”, sagt Jesus.

Ist das nicht Geschichte?

Immerhin hat dieser Satz fast 2.000 Jahre auf dem Buckel.

Wenn Jesus ein vorbildlicher Mensch gewesen wäre,

ein Weiser oder Heiliger,

der Kluges gesagt, Menschen selbstlos geholfen hätte,

wäre dieser Satz tatsächlich Geschichte.

Man würde ihn hören als Erinnerung an einen besonderen Menschen,

der vor langer Zeit eine Predigt hielt,

die seine Zuhörer in Verwunderung und Erstaunen versetzte.


Nun aber war Jesus nicht nur ein guter Mensch,

sondern ist Gottes Sohn.

Jesus ist keine Figur der Geschichte,

Jesus lebt, „sitzend zur Rechten Gottes”,

wie wir es uns im Glaubensbekenntnis vergegenwärtigen.

Und zugleich ist er jetzt bei uns, denn

„wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,

da bin ich mitten unter ihnen” (Matthäus 18,20).


Jesus ist nicht Vergangenheit, sondern immer gegenwärtig.

Immer Geschenk der Gegenwart und geheimnisvolle Zukunft.

Und damit ist auch das, was er sagte, Gegenwart.

Das Evangelium ist kein historisches Dokument,

keine Geschichte über einen Menschen, der einmal -

lang, lang ist’s her - gelebt hat.

Das Evangelium vergegenwärtigt sich uns

in dem Moment, in dem es gelesen wird:

„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren.”


Und was erfüllt sich da?

„Den Armen wird gute Nachricht gebracht.

Den Gefangenen die Freilassung angekündigt.

Den Blinden, dass sie sehen werden,

und den Unterdrückten, dass sie frei sein werden.

Ein Gnadenjahr des Herrn.”


Aber - - - all das erfüllt sich doch gar nicht!

Es bleiben nur Ankündigungen.

Heute sind sie alle noch arm, gefangen, blind oder unterdrückt.

Die Erfüllung liegt in der Zukunft.

Anders kann es auch gar nicht sein.

Denn unsere Wirklichkeit funktioniert nach Naturgesetzen,

nicht auf magische Weise,

dass jemand die Zauberformel spricht,

und - puff! - geschieht, was er sich wünscht.

In all unserem Sehnen, dass Gott eingreifen,

die Welt und seine Menschen retten

und die Bösen bestrafen möge,

und in all unserer Enttäuschung darüber, dass Gott nichts tut,

offenbart sich unser Glaube an Magie, an Wunder:

Dass für uns die Naturgesetze nicht gelten sollen

oder wenigstens dies eine Mal außer Kraft gesetzt werden.

Aber wir mussten die schmerzhafte Erfahrung machen,

dass unsere Welt so nicht funktioniert.


Das Wort Gottes erfüllt sich „in unseren Ohren”.

Es ist kein Zauberwort, das sich selbst verwirklicht.

Das Wort braucht uns, braucht Hörer:innen,

um Wirklichkeit zu werden.

Indem es uns berührt, uns anrührt, sodass wir denken:

Ja, wir möchten, dass Gefangene frei werden,

nicht nur die politischen Gefangenen im Iran,

in der Türkei oder in Russland.

Auch die Straftäter bei uns sollen die Chance bekommen,

eines Tages neu anfangen zu können.

Ja,wir möchten, dass Menschen mit Handicap

sich nicht als Menschen zweiter Klasse fühlen müssen;

dass ihnen geholfen wird,

ohne sie wie Hilfsbedürftige oder gar wie Kinder zu behandeln.

Ja, wir wünschen und gönnen den Unterdrückten

überall in der Welt die selbe Freiheit, die wir genießen.


Das Wort rührt uns an.

Die Idee gewinnt Gestalt.

Die Gestalt drängt zur Verwirklichung.

Sie findet Mittel und Wege, durch uns Wirklichkeit zu werden.

Und zugleich bleibt ein Mehr, ein Überschuss.

Das Wort wird in uns Gegenwart

und ist zugleich geheimnisvolle Zukunft, Verheißung.

Es liegt nicht allein an uns, dass es Wirklichkeit wird.

Die Zukunft ist ein Geheimnis - Gottes Geheimnis.

Gott kann eine Zukunft heraufführen,

die wir noch nicht sehen,

die wir uns noch gar nicht vorstellen können.


Heute erfüllt sich das Wort des Evangeliums in uns.

Heute beginnt das Gnadenjahr des Herrn,

das neue Möglichkeiten eröffnet,

die wir noch nicht sehen können -

trotzdem sind sie schon da.

Dieses „Heute” ist nicht nur heute,

am ersten Tag eines neuen Jahres.

Jeder Tag, den wir erleben, ist „heute”.

An jedem Tag kann etwas Neues beginnen -

jeden Tag beginnt etwas Neues,

weil Gottes Wort in uns und durch uns

eine neue Wirklichkeit schafft. Amen.