Sonntag, 12. Februar 2023

Dankbarkeit

Predigt am Sonntag Sexagesimae, 12.2.2023, über Jesaja 55,6:

„Sucht den Herrn, solange er zu finden ist;

ruft ihn an, solange er nahe ist.”



Liebe Schwestern und Brüder,


ein naher Angehöriger ist gestorben.

Groß ist der Schmerz,

diesen lieben Menschen nicht mehr sehen zu können;

ihn nicht mehr zu berühren und von ihm berührt zu werden;

den Alltag nicht mehr miteinander zu teilen -

eine gemeinsame Mahlzeit,

die Plauderei bei einer Tasse Kaffee;

nicht mehr miteinander zu telefonieren

und sich gegenseitig Fotos zu schicken.

Groß ist der Schmerz,

mit diesem Menschen nicht mehr all das erleben zu können,

was man gern noch mit ihm, mit ihr erleben wollte.


Zu all dem, was einem nun fehlt, hinzu

kommt die Erkenntnis, dass man sie, ihn nichts mehr fragen kann

ihr, ihm nichts mehr sagen kann -

wie lieb man diesen Menschen hatte;

wie leid einem der letzte Streit tut,

oder dass man ihn nicht so oft besuchen konnte,

wie es sich dieser Mensch gewünscht hätte.

Das Verhältnis zu diesem Menschen bleibt so,

wie es bei der letzten Begegnung gewesen war;

man kann nichts mehr klären oder erklären,

nicht mehr nachfragen oder um Verzeihung bitten.


„Suchet den Herrn, solange er zu finden ist.”


In solchen Momenten des Verlustes

ist einem um Trost sehr bange.

Gott scheint fern, scheint sich verborgen zu haben.

Man fragt nach dem Warum und erhält keine Antwort.

Man zieht Gott zur Rechenschaft,

man möchte ihm seine Wut über diesen Verlust

und über die Krankheit, die diesem Tod vorausging,

entgegenschleudern.

Aber da ist nur Schweigen - und Dunkelheit.

Beinahe will es so scheinen,

als plage Gott das schlechte Gewissen,

dass er diesen Tod nicht verhinderte.


„Suchet den Herrn, solange er zu finden ist.”


Wenn einem Böses widerfährt,

wenn man von Leid oder Kummer heimgesucht wird,

sucht man Gott manchmal vergeblich.

Dann fällt es schwer, zu beten.

Dann will man nichts mehr wissen von einem Gott,

der das Schreckliche zugelassen hat -

und wartet zugleich sehnsüchtig darauf,

dass er Antwort gibt auf die Frage nach dem Warum.

Der Glaube, in dem man so lange zuhause war,

wird in solchen Momenten zu einem leeren Ritual,

das einem nichts mehr gibt -

außer vielleicht den Trost, den das Vertraute spendet

und die Gemeinschaft und Zuwendung,

die man im Gottesdienst erfährt.


„Suchet den Herrn, solange er zu finden ist.”


Das Prophetenwort beschreibt nicht die Erfahrung der Gottesferne,

die wir beim Verlust eines lieben Menschen manchmal machen.

Er beschreibt nicht die Erfahrung des deus absconditus,

des verborgenen, unverständlichen, dunklen Gottes.

Es fordert vielmehr dazu auf,

die Gelegenheit zur Begegnung mit Gott zu nutzen,

solange man es kann, das heißt:

Solange es einem gut geht,

man gesund und glücklich ist

und keine Schicksalsschläge das Verhältnis zu Gott verdunkeln.


Aber wenn es einem gut geht,

wenn alles stimmt und alles passt,

ist Gott auch sehr fern.

Nicht, weil er sich verborgen hätte.

Sondern weil wir ihn nicht brauchen, wenn es uns gut geht,

und ihn fast vergessen haben.

Blauer Himmel, strahlende Sonne,

eiserne Gesundheit oder gute Laune

sind keine Lehrmeister des Glaubens.

„Not lehrt beten”, sagt ein Sprichwort,

nicht Glück und Überfluss.


Das ist wie mit dem Erste-Hilfe-Kasten.

Den braucht man auch erst,

wenn man sich selbst oder sich jemand anders verletzt hat.

Es ist gut zu wissen, wo man ihn im Notfall findet.

Aber solange niemandem etwas fehlt, braucht man ihn nicht.


Nun ist Gott alles andere als ein Erste-Hilfe-Kasten.

Doch selbst den kann man nur sinnvoll verwenden,

wenn man weiß, wie’s geht.

Wer nie zuvor in den Kasten hineingesehen hat,

wer nie gelernt hat, wie man einen Verband anlegt,

für den wird der Erste-Hilfe-Kasten im Notfall keine Hilfe sein.


Ebenso ist es mit unserer Gottesbeziehung.

Wer vorher nicht gebetet hat,

den wird auch die Not nicht beten lehren.

Wer nicht darin geübt ist, Gott zu vertrauen,

wird es nicht können, wenn das Vertrauen auf Gott

Risse bekommen hat oder plötzlich fehlt;

wenn man Gott fragt: Warum?

Wer nie Zweifel zuließ,

kann den Boden unter den Füßen verlieren,

wenn leidvolle Erfahrung an Gottes gutem Willen zweifeln lassen.


Nun aber ist Gott fürwahr kein Erste-Hilfe-Kasten

und unser Verhältnis zu ihm auch keines wie zu einem Klempner,

den man anruft, wenn der Wasserhahn nicht funktioniert.

Wir stehen mit Gott in einer Beziehung.

Eine Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit.

Man kann nicht erwarten, dass vom anderen etwas kommt,

wenn man selbst nicht in die Beziehung investiert.

Von Gottes Seite aus ist es eine Liebesbeziehung.

Gott wünscht sich, dass wir ihn „Vater” nennen

und ihm mindestens ebenso vertrauen,

wie wir unseren Eltern vertrauten.


Solches Vertrauen ist nicht einfach da.

Wie die Beziehung zu unseren Eltern entstand

aus Nähe und Distanz,

wie unser Vertrauen wuchs

durch Differenzen und Enttäuschungen,

die wir miteinander überwanden,

so braucht auch unsere Beziehung zu Gott Zeit,

um durch Nähe und Distanz zu wachsen.

Sie braucht den Zweifel und den Widerspruch,

damit unser Vertrauen auch dann trägt,

wenn wir Gott nicht verstehen

und es uns schwer fällt zu glauben,

dass Gott Gutes für uns will.


Darum also die Mahnung des Propheten:

„Suchet den Herrn, solange er zu finden ist.”

Ebenso gemahnt uns der Tod eines lieben Menschen,

wie begrenzt und kostbar die Zeit ist,

die wir miteinander haben.

Wie unnötig, ja, fahrlässig aller Streit,

alles Schmollen und Beleidigtsein ist,

weil es verhindert, dass wir den Augenblick erleben,

den wir jetzt miteinander teilen.


Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut rät,

sich in gemeinsamen Momenten bewusst zu machen,

wie glücklich man ist. Und was für ein Glück man hat,

ihn mit diesem besonderen Menschen zusammen zu erleben.

Er erzählt von seinem Onkel, der in solchen Momenten sagte:

„Wenn das jetzt nicht schön ist,

dann weiß ich nicht, was schön ist”.

Und damit dafür sorgte,

dass man ihn bewusst wahrnahm.


Auch in unserer Beziehung zu Gott machen wir uns

den Augenblick bewusst, wo wir unseres Glaubens sicher sind

und wo wir spüren, wie gut Gott es mit uns meint.

Die Bibel nennt solche Fälle „Dank sagen”.

Dankbarkeit ist die Schule, in der wir lernen,

auf Gott zu vertrauen.

In der wir ein Vertrauen zu Gott aufbauen,

das belastbar ist und nicht zerbricht,

wenn Gott fern und unverständlich erscheint.

Dankbarkeit ist auch die Schule, in der wir lernen,

die Augenblicke schätzen, die wir mit anderen teilen.


Dankbarkeit hilft uns schließlich auch dabei,

den Schmerz des Verlustes auszuhalten

und den Menschen, den man lieb hatte, gehen zu lassen.

„Die Dankbarkeit”, schrieb Dietrich Bonhoeffer

seinem Freund Eberhard Bethge zum Abschied aus dem Gefängnis,

„verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude.

Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel,

sondern wie ein kostbares Geschenk in sich” (WuE, 198).


Dankbarkeit lässt uns erkennen,

dass Gott ein Schenkender ist.

Gott gibt uns Leben, nicht den Tod.

Gott will für uns Glück, nicht Leid.

Gott steht Leid und Tod entgegen und hat sie überwunden

durch seinen Sohn Jesus Christus,

der für uns am Kreuz starb.

Der für uns alle den Tod überwand und auferstand.

Dem Tod bleibt kein Reich mehr,

seit das Reich Gottes aufgerichtet ist.

Daran erinnern uns die Worte der Schrift.

Christus, der Sämann, streut sie unter uns aus,

damit Glauben wachse und Vertrauen

und beides Frucht bringe, wenn wir sie nötig haben.