Sonntag, 26. März 2023

lernen, Mensch zu sein

 Predigt am Sonntag Judika, 26.3.2023, über Hebräer 5,7-9



Liebe Schwestern und Brüder,


„wenn der Vater mit dem Sohne einmal ausgeht,

und dann keiner gern nach Haus geht,

dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen,

mal zum Weinen, mal zum Lachen.”


Dieses Lied stammt aus dem Rühmann-Film

„Wenn der Vater mit dem Sohne”, erschienen im Jahr 1955.

Manche der anwesenden Väter und Mütter

werden ihn als Kinder im Fernsehen gesehen haben,

in „Willi Schwabes Rumpelkammer” vielleicht,

damals noch in Schwarz-Weiß

(das können sich Kinder heute gar nicht mehr vorstellen!).

Als der Film in die Kinos kam, als Heinz Rühmann ein Star war,

da sahen ihn die Mütter und Väter

der heutigen Mütter und Väter,

also die Generation der Großeltern.


„Wenn der Vater mit dem Sohne ...”

- was macht der Vater mit dem Sohn?

... oder die Mutter mit der Tochter?

Was machen Eltern mit ihren Kindern?


Wenn ich schon so frage:

Sie erleben zusammen nicht nur tolle Sachen.

Was sie miteinander erleben,

miteinander ausmachen und verhandeln,

was sie einander antun, ist oft schmerzvoll,

ist manchmal zum Weinen, nicht zum Lachen.


Und auch im Predigttext geht es um das,

was der Vater mit dem Sohn tut,

und der Sohn mit dem Vater.

Auch eher zum Weinen als zum Lachen.


Ist auch Ihnen der Satz beim Hören aufgefallen:

„Obwohl er Gottes Sohn war,

lernte er Gehorsam an dem, was er litt?”


„Obwohl er Gottes Sohn war ...”,

das klingt, als hätte Jesus das Leiden

eigentlich erspart bleiben müssen.


Eltern möchten ihren Kindern Leiden ersparen.

Deshalb sprechen sie so viele Verbote aus.

Nicht, um ihre Kinder zu ärgern, sondern um sie zu beschützen.

Kinder aber wollen, Kinder müssen eigene Erfahrungen machen.

Und dazu gehört leider auch, dass sie Schmerzvolles erleben,

dass sie leiden.


Eltern möchten, dass es ihre Kinder besser haben sollen,

als sie selbst es hatten:

Bessere Lebensbedingungen, eine bessere Ausbildung;

die Möglichkeit, ihre Begabungen zu entwickeln.

Kinder sollen das Beste aus ihrem Leben machen,

sich ihre Träume erfüllen können.

Aber eigentlich sollen sie die Träume der Eltern erfüllen.

Die Träume der Eltern von einem besseren Leben.

Die Träume der Eltern von Chancen, die sie nicht hatten.


„Obwohl er Gottes Sohn war ...”,

das klingt auch ein wenig nach dem „silbernen Löffel” im Mund,

nach einem Kind aus besserem Hause:

Gottes Sohn, der muss sich das doch nicht antun;

Gottes Sohn, dem müsste doch alles offen stehen;

Gottes Sohn, dem begegnet kein Leid.

Der schwebt auf Wolke Sieben.


Auch das kennen Kinder von ihren Eltern oder Großeltern:

Die Litanei, dass sie es früher viel schwerer hatten

als ihre Kinder heute:

früher wurde man noch geschlagen

- nicht nur zuhause, auch in der Schule.

Früher gab es kaum Spielzeug, selten Süßigkeiten

- vom Fernseher ganz zu schweigen.

Früher musste man als Kind mithelfen, mitarbeiten,

Pflichten und Verantwortung übernehmen.

Früher durfte man keine Widerworte wagen.

Dagegen wachsen die meisten Kinder in unserem Land

heute tatsächlich mit dem silbernen Löffel im Mund auf.


„Obwohl er Gottes Sohn war”,

ließ sein Vater ihn leiden.

Obwohl er „in den Tage seines irdischen Lebens

Bitten und Flehen mit lauten Schreien

und mit Tränen dem darbrachte,

der ihn vom Tod erretten konnte”,

musste er erst leiden und Gehorsam lernen,

bis Gott ihn erlöste.


Bei diesen Sätzen fallen mir Bilder

aus amerikanischen Militärfilmen ein:

Wie da die Rekruten geschliffen werden,

angeschrien, beleidigt, gedemütigt.

Wie sie sich in den Dreck werfen müssen,

weil der Ausbilder es will, wieder und wieder.

Wie sie unwürdige Arbeiten verrichten müssen,

weil sie einen Befehl nicht schnell genug befolgt,

ihre Stiefel nicht blank genug geputzt,

ihre Hemden nicht auf DIN A 4 gefaltet haben.


Und das ist ja nicht nur im Kino so:

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre!”, hieß es früher.

Und so ist es noch heute.

Manche Söhne und Töchter erfahren Demütigungen,

bis sie erwachsen geworden sind.

Man lässt sie spüren, dass sie noch viel zu lernen haben,

dass sie noch nicht mitreden dürfen im Kreis der Großen,

der Mächtigen, der Entscheider, der Eltern.


Wenn sie dann groß geworden,

wenn sie selbst Eltern sind,

bleiben sie doch immer noch Kinder: die Kinder ihrer Eltern.

So, wie die Eltern Kinder bleiben ihrer Eltern.

Sie konnten erst deren Platz einnehmen,

als sie, die Großeltern, ihn freigaben.

Ihre Kinder werden deshalb auch ihren Platz erst einnehmen dürfen,

wenn sie, die Eltern, ihn freigeben.


Und so reißt die Kette niemals ab,

die Kette des Leides, das sich durch die Generationen zieht.

Väter und Mütter geben an ihre Kinder den Auftrag weiter,

stellvertretend zu verwirklichen,

was sie nicht tun konnten, tun wollten, oder tun durften:

die unerfüllten Träume zu erfüllen;

die verpassten Chancen wahrzunehmen;

die vertanen Gelegenheiten zu ergreifen.


Und Väter und Mütter verweigern ihren Kindern,

was ihnen selbst von der Elterngeneration verwehrt wurde:

Teilhabe an der Macht;

Respekt vor den eigenen Ideen und Plänen,

vor der Eigenart, dem Anderssein;

die Möglichkeit, zu zeigen, was man kann;

die Erlaubnis, Fehler zu machen, sich zu irren, zu scheitern.


„Obwohl er Gottes Sohn war,

lernte er Gehorsam an dem, was er litt.”


Ist Jesu Vater einer, der von sicherer Warte aus zusieht,

wie sein Sohn Todesangst aussteht im Garten von Gethsemane?

Wie er geschlagen wird von den Soldaten, ausgelacht, gedemütigt?

Wie er unsägliche Schmerzen erleidet,

als er ans Kreuz geschlagen wird

und das Gewicht seines Körpers an den Nagelwunden zerrt?

Wie er, von allen Freunden im Stich gelassen,

verzweifelt schreit:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


Könnten wir, wenn Gott so ein Vater gewesen wäre,

noch zu ihm beten: Vater unser ...?


Und ist der Gehorsam, den Gott von seinem Sohn fordert,

tatsächlich der Kadavergehorsam,

der uns in den Militärfilmen so unter die Haut geht,

uns ohnmächtige Wut und Zorn spüren lässt?


Es gibt viele Stellen der Bibel,

in denen uns Gott fremd ist, sehr fremd sogar.

In denen Gott uns unverständlich,

oder sogar anstößig erscheint.

Man kann das nicht alles verstehen,

man kann das nicht alles erklären.

Wir verstehen auch unsere Eltern oft nicht,

und Eltern verstehen ihre Kinder oft nicht.

Wir müssen uns immer wieder eingestehen,

dass wir die Menschen, die wir am meisten lieben,

oft am wenigsten kennen und verstehen.


Und doch ist es nicht vorstellbar,

dass Gott, von dem die Bibel erzählt,

wie sehr er die Menschen liebt,

wie sehr er darunter leidet, dass sie sich von ihm abwenden;

dass Gott, der von Jesus sagte:

„das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe”,

- dass diesen Gott das Leiden seines Sohnes kalt lässt;

dass er ungerührt zusieht,

wie sein Sohn misshandelt und gedemütigt wird,

wir er stirbt.


Jesus lernte Gehorsam ...

Diese Stelle im Hebärerbrief ist die einzige im Neuen Testament,

in der es ausdrücklich heißt, dass Jesus etwas lernt.

Jesus lernt auch etwas von der kanaanäischen Frau.

Als er sie demütigt:

„Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme

und werfe es vor die Hunde”, widerspricht sie ihm:

„Aber doch fressen die Hunde die Brosamen,

die vom Tisch ihrer Herren fallen.”

Jesus lernt vom Hauptmann von Kapernaum,

der es nicht für nötig hält, dass Jesus in sein Haus kommt,

um seinen kranken Knecht zu heilen.

Ihm reicht ein einziges Wort von Jesus.


Überall sonst aber wird Jesus „Meister” genannt,

als „Rabbi” angeredet.

Überall sonst ist er es, der die Menschen mit Gleichnissen lehrt

oder zu ihnen predigt auf dem Berg.

Als Zwölfjähriger schon hat er die bibelfesten Schriftgelehrten

im Tempel das Staunen gelehrt.


Aber etwas muss er noch lernen:

Jesus muss lernen, Mensch zu sein.

Als Gottes Sohn, der wahrhaft Mensch geworden ist,

muss er das Menschsein in seiner ganzen Fülle erleben.

In seiner ganzen Fülle an Schönheit,

an Liebe, Freundlichkeit, Respekt und Zuwendung.

Und auch in seiner ganzen Fülle an Schrecken und Leid,

an Krankheit, Ohnmacht, Gemeinheit und Verzweiflung.

Beides gehört untrennbar zueinander

wie zwei Seiten einer Medaille.


Um wirklich Mensch zu sein,

musste Jesus deshalb auch das Leid kennen lernen,

bis hin zur Einsamkeit und Verlassenheit am Kreuz.

Das war kein teuflischer Lehrplan Gottes.

Es ist die Realität des Lebens,

die jede und jeder von uns erleiden muss.

Und so wurde er vollendet,

weil er bis zum Ende Mensch blieb,

der Versuchung widerstand,

sich durch ein Wunder zu retten

oder Gott zu verfluchen.


Jesus war wirklich und wahrhaft Mensch,

damit wir Mensch sein können.

Damit wir nicht die Wünsche und Träume

unserer Eltern wiederholen müssen

und auch nicht ihre Fehler,

sondern unsere eigenen Träume und Wünsche leben dürfen,

unsere eigenen Fehler machen können.


Jesus war wirklich und wahrhaft Mensch,

damit er bei uns sein kann,

wenn wir versuchen, Mensch zu bleiben

und menschlich zu sein.


Er wurde Mensch,

damit er uns den Weg weisen konnte

aus Leiden, Ohnmacht, Angst und Qual heraus

ins Leben.


„Wenn der Vater mit dem Sohne einmal ausgeht,

und dann keiner gern nach Haus geht,

dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen,

mal zum Weinen, mal zum Lachen.”


Mütter und Väter tun ihren Kinder viel Gutes.

Und manchmal tun sie ihnen auch sehr weh.

Und die Kinder sind nicht anders.

Eltern und Kinder tun einander sehr viel an,

an Schönem, und auch an Schwerem.

So sind wir Menschen.

Das Schöne und das Schwere sind zwei Seiten

der einen Medaille.

Das macht es den Kindern mit ihren Eltern

nicht unbedingt leichter,

und auch nicht den Eltern mit ihren Kindern.

Aber es lehrt uns, darauf zu sehen,

worauf es ankommt:

auf das Zusammen:

„Dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen.”


Gott hat seinen Sohn niemals verlassen.

Auch in seiner Todesstunde am Kreuz,

als er nach seinem Vater schrie,

als er schrie: „Eli, Eli, lama asabthani”,

da hörte ihn Gott.


So hört Gott uns,

wenn wir schreien oder flüstern,

fluchen oder bitten.

Gott geht mit uns durchs Leben

und erlebt mit uns die tollsten Sachen,

weint mit uns

und lacht mit uns.

So sind wir frei, unseren eigenen Weg zu gehen,

es nicht besser zu machen als unsere Eltern

oder schlechter,

sondern unser Leben auf unsere Weise zu leben.


Und wenn wir dabei Mensch bleiben,

dann ist es gut.

Amen.