Donnerstag, 6. April 2023

vor Grübelei bewahrt

Predigt am Gründonnerstag, 6.4.2023, über Lukas 22,39-46

Liebe Schwestern und Brüder,

ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern im Garten Gethsemane hören. Ich muss mich jedes Mal fremdschämen. Ich schäme für die Jünger. Diese Versager!

Im Augenblick seiner größten Not, in der schlimmsten Stunde seines Lebens lassen sie Jesus im Stich! Dabei wird so lächerlich wenig von ihnen verlangt. Weder sollen sie sich zwischen Jesus und seine Häscher werfen, wie Petrus es vollmundig verspricht, noch sollen sie den Leidensweg Jesu mitgehen, wie Jakobus und Johannes es wollen. Alles, was Jesus von ihnen erwartet, ist, dass sie wach bleiben. Und gerade das gelingt ihnen nicht.

Wenn man sagt: „Denk jetzt nicht an einen rosa Elefanten“, kann man gar nicht anders, als sich so einen quietschrosa Elefanten vorzustellen. Sehen Sie ihn vor Ihrem geistigen Auge? Und ist er eher fleischfarben, oder ist er so richtig knallrosa?

Wenn man jemanden gähnen sieht, muss man selbst oft auch gleich mitgähnen. Aber wenn jemand sagt: „Schlaf bitte nicht”, dann schläft man nicht automatisch ein, oder?

Nach einem Todesfall machen sich Angehörige manchmal Vorwürfe, wenn sie im entscheidenden Moment des Todes nicht bei dem Menschen waren, der gerade gestorben ist. Da saßen sie Stunde um Stunde am Sterbebett, sind nur für einen Moment vor die Tür gegangen, um sich kurz die Beine zu vertreten - und genau in diesem Augenblick ist ihr:e Angehörige:r gestorben. 

Andere haben eine:n Angehörige:n über Wochen oder Monate betreut, gepflegt, beim Sterben begleitet.  Irgendwann wurde es ihnen zuviel, sie mussten sich eine kurze Auszeit nehmen - und waren im Moment des Todes nicht da.

Wenn man solche Erfahrungen macht, fühlt man sich wie die Jünger im Garten Gethsemane - und schämt sich. Dabei gibt es keinen Grund, sich zu schämen oder sich für die Jünger fremdzuschämen. Lukas schildert Jesus nämlich nicht als jemanden, der enttäuscht ist, dass auf seine Freunde kein Verlass war. Sondern als Seelsorger, der selbst im Angesicht des Todes um seine Jünger besorgt ist und möchte, dass sie kein Leid erfahren.

Einen ersten Hinweis darauf gibt die Schilderung, dass Jesus sich „einen Steinwurf” von den Jüngern  entfernt.
Wie weit können Sie einen Stein werfen? Vielleicht wissen Sie es nicht mehr, weil es schon so lange her ist, dass Sie es probiert haben. Es hängt ja auch von der Größe und Form des Steines ab. Wenn man jünger ist und ein bisschen sportlich, wie es Jesu Jünger wohl waren, und wenn der Stein klein ist und gut in der Hand liegt, kann man ihn ein ganzes Ende weit werfen.

So weit jedenfalls, dass man nicht mehr hören kann, was Jesus spricht und auch nicht mehr genau sieht, was er gerade tut - zumal in einem Garten, in dem Büsche und Bäume die Sicht verdecken.

Mit anderen Worten: Wenn Jesus sich „einen Steinwurf weit” entfernt, will er allein sein. Er möchte wohl seine Jünger in der Nähe wissen, aber um ihn sollen sie sich nicht kümmern. Sie sollen nicht um seinetwillen wach bleiben, sondern um ihretwillen. Wach sein und beten, dass sie nicht in Anfechtung fallen.

Was für eine Anfechtung könnte das sein? Weglaufen, Jesus im Stich lassen? Jesus verraten? Den eigenen Glauben verraten?
Nein, das ist doch eher unwahrscheinlich, wenn man den weiteren Verlauf der Geschichte bedenkt. Zwar laufen die Jünger im ersten Augenblick weg. Aber am Ende stehen sie zu Jesus und ihrem Glauben und treten, wenn man den Legenden glauben darf, sogar mit ihrem Leben für ihren Glauben ein. Es geht also nicht um etwas, was die Jünger tun, sondern um etwas, was die Jünger empfinden könnten.

Was fühlt man, wenn ein Mensch, den man lieb hat, dem Tod geweiht ist und man genau weiß, dass man nichts mehr dagegen tun, dass man den Tod nicht ändern kann? 

Ohnmacht und Verzweiflung.

Eine Ohnmacht und Verzweiflung, durch die man in eine tiefe Traurigkeit versinken kann. Traurigkeit, die lähmt, alles sinnlos erscheinen lässt. Traurigkeit, die alles infrage stellt, was war, wofür man einmal gekämpft und gebrannt hat. Jetzt ist da nur noch kalte Asche. Und man fragt sich, was man hier noch soll, was das alles noch für einen Sinn hat. Steigt man diese Spirale der Traurigkeit weiter und weiter hinab, gerät man in das schwarze Loch der Depression, aus dem man sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann.

Davor will Jesus seine Jünger bewahren. Nicht ganz uneigennützig. Er braucht sie noch: Sie sollen seinen Weg weiter gehen. Sie sollen Botschafter:innen dessen werden, was sie jetzt noch nicht wissen können, obwohl Jesus es ihnen angekündigt hat, und was selbst Jesus verdunkelt ist durch die Angst vor dem, was ihm bevorsteht: Dass er nach drei Tagen auferstehen wird. Dass dann der Tod besiegt ist, dass uns dann Leid, Traurigkeit und Dunkelheit nicht mehr in ihren Bann schlagen können. Deshalb sollen die Jünger wach bleiben und beten.

Aber wie soll das Gebet gegen die Depression helfen? Wenn das Gebet etwas gegen Depressionen ausrichten könnte, müsste es diese Krankheit nicht geben, bräuchte es keine Kliniken mehr, wären viele Therapeut:innen arbeitslos.

Die Depression steht am Ende der Abwärtsspirale, die mit der Traurigkeit beginnt. Das Gebet verhindert, dass es überhaupt zu einer solchen Abwärtsspirale kommt. Die Abwärtsspirale wird in Gang gesetzt durch das Grübeln: „Was wäre gewesen, wenn …” „Hätte ich doch nur dies oder jenes getan oder gesagt, hätte ich mich doch nur anders entschieden, hätte ich doch nur dies oder jenes nicht getan!”

Vor dieser Grübelei rettet das Gebet, indem es dazu anhält, nach Gottes Willen zu fragen, wie es auch Jesus in Gethsemane tut: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!”

Beten ist nicht das Aufstellen eines Wunschzettels, was ich alles für mich, wie ich das Leben für mich gern hätte. Als Fürbitte ist es ein Eintreten für andere. Ein weit Werden des Blickes, hinaus über den Tellerrand meines Alltags, meiner kleinen Welt hin zu meiner Umwelt, meinen Mitmenschen nah und fern. Als Gebet für mich ist es ein Gespräch mit Gott, dem ich alles sagen kann, was ich auf dem Herzen habe.

Doch wenn Beten ein Gespräch ist, gilt für das Beten, was für alle Gespräche gilt: Ein Gespräch hat immer zwei Gesprächspartner. Redet nur eine:r, und die andere hört nur zu, ist das kein Gespräch. Wer sich auf das Gebet, das Gespräch mit Gott, einlässt, hat Gott als Gesprächspartner. Ist all das gesagt, was man auf dem Herzen hat, kommt das Hören. Das Hören auf das, was Gott will. Und wenn man das Verhältnis zwischen Gott und Mensch recht bedenkt, wird man schließlich irgendwann dahin kommen, mit Jesu Worten zu sagen: „Dein Wille geschehe!”

Was aber ist Gottes Wille? Woher soll ich wissen, was Gott von mir will? Beim Kollektengebet zu Beginn des Gottesdienstes erinnern wir uns zuerst an Gottes heilvolles Handeln, bevor wir eine Bitte aussprechen. Heute haben wir uns daran erinnert, dass Jesus uns in Brot und Wein Anteil am Geheimnis seines Lebens gibt und die Trennung aufhebt, die unsere Schuld bewirkt hat.

Dieses heilvolle Handeln Gottes finden wir beschrieben in den Worten der Bibel. Weil wir Gottes Kinder sind, dürfen wir diese Worte auf uns beziehen, uns von ihnen angesprochen fühlen, sie uns gesagt sein lassen. Nicht nur die Worte, die uns infrage stellen, die uns unsere Schuld vor Augen führen. Auch - und ganz besonders - die Worte, mit denen Gott uns seine Liebe zusagt. Mit denen er uns Leben verheißt. Leben gegen alle Traurigkeit und Angst, Leben, das der Tod niemals besiegt.