Samstag, 8. April 2023

Morgentau

Predigt in der Osternacht, 8. April 2023, über Jesaja 26,13-14.19

Wenn du begraben liegst,

gibt es keine Erinnerung mehr an dich,

noch Sehnsucht bei den Nachgeboreren -

du hattest ja keinen Anteil

an den Rosen von Pieria.

Ungesehen wirst du in des Hades Haus stolzieren,

unter blasse Schatten verweht.


Liebe Schwestern und Brüder,


solch bittere Worte ruft die Dichterin Sappho

einer reichen Dame hinterher.

Verachtung schwingt in diesen Worten.

Vielleicht hat die reiche Dame arrogant

auf die Dichterin herabgeschaut;

vielleicht hat sie direkt vor Sapphos Nase

provozierend mit ihrem Geschmeide geklimpert;

vielleicht ist sie in ihrem teuren Kostüm

vor der Dichterin herumstolziert.


Die Worte Sapphos klingen wie ein Fluch

und treffen damit einen Nerv -

nicht nur der reichen Dame.

Auch wir fürchten uns davor,

dass man uns vergessen könnte,

wenn wir gestorben sind.

Dass wir wie welke Blätter vom Winde verweht werden.

Sapphos Worte rühren an die Angst,

mit dem Tod könnte tatsächlich alles aus sein,

es käme nichts mehr danach.


Sappho kennt aber noch ein anderes Ende:

Das Weiterleben durch die Kunst.

So lebt die Dichterin von Lesbos weiter:

Zweieinhalbtausend Jahre nach ihrem Tod

kennen wir noch immer ihren Namen,

hören wir noch immer ihre Gedichte.

Was Wohlstand und Reichtum nicht vermögen,

gelingt der Schönheit der Kunst:

Wir vergessen sie nicht, sie lebt unter uns weiter.


So lebt auch die Schönheit dieses Domes weiter,

dessen Grundstein vor über 850 Jahren gelegt wurde.

Die Namen der Baumeister, der Künstler sind vergessen;

der Dom gibt weiterhin beredt Auskunft

über den Glauben, der sie beseelte,

die Hoffnung, die sie in sich trugen:


Herr, unser Gott,

uns beherrschen noch andere Herren außer dir,

aber wir bekennen nur deinen Namen.

Unter diesen Herren werden Tote nicht leben,

Schatten der Unterwelt nicht auferstehen.

Darum kommst du über sie und vertilgst sie

und wirst jede Erinnerung an sie auslöschen.

Deine Toten aber werden leben,

meine Verblichenen werden auferstehen.

Wacht auf und jubelt, Bewohner der Erde!

Denn dein Tau ist ein Morgentau,

und die Erde wird die Schatten der Unterwelt freigeben.


Auch Jesaja stellt zwei Parteien einander gegenüber.

Waren es bei Sappho Reichtum und Schönheit,

so sind es bei Jesaja die Herren der Welt und der eine Herr.

Und wie Sappho stellt Jesaja fest,

dass die Herren der Welt das Vergehen nicht verhindern können.

So groß ihre Macht auch sein mag,

gegen den Tod können sie nichts ausrichten.

Sie können den Tod verfügen,

können ihn durch Krieg über ihre Nachbarn bringen.

Aber sie können nicht wieder lebendig machen.

Sie können nichts schaffen, sondern nur zerstören.


Unsere Macht - die Macht, die wir über andere ausüben;

die Macht, die andere zwingt,

unseren Willen zu tun -

kann nichts schaffen, nur zerstören.

Und die Ehrfurcht, die sie erheischt,

ist nicht die, die wir vor einem Kunstwerk empfinden

oder hier in diesem Dom.

Es ist die Furcht vor dem, wozu der Mächtige fähig ist.

Und das ist eben nie schön -

auch wenn manche von der Macht profitieren -,

sondern immer leidvoll und am Ende zerstörerisch.


Die Macht der Mächtigen erweist sich nutzlos angesichts des Todes.

Was die Macht zerstörte und tötete, kann sie nicht wieder lebendig machen.

Dadurch entpuppt sie sich als Ohnmacht.

Macht und Gewalt sind Ausdruck von Hilflosigkeit,

nicht von Souveränität.


Deshalb tritt der allmächtige Gott auch nicht machtvoll auf,

nicht gewaltsam oder gewalttätig.

Er ist ganz still.

So, wie der Tau still ist.

Regen hört man fallen, plätschern, rauschen.

Aber Tau kommt ganz unmerklich - und ist dann einfach da.


Im zweiten Schöpfungsbericht wird beschrieben,

dass ein Tau den Ackerboden feuchtete,

aus dem Gott dann den Menschen formte -

lebensspendender Tau.


Im Buch Exodus wird erzählt,

wie das Volk Israel seinen Hunger mit Manna stillte

nachdem es den Ägyptern entkommen war:

„Am Morgen lag Tau rings um das Lager.

Und als der Tau weg war, siehe,

da lag’s in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde” -

lebensrettender Tau.


Gottes Macht erweist sich nicht in Zwang und Gewalt,

sondern in der Sanftheit des Morgentaus.

Und wie Gott seinem Volk das Manna „getaut” hat,

so weckt sein Tau die Toten aus der Erde.

Wie Samen, die in der Erde geschlafen haben,

durch die Feuchtigkeit keimen,

so erstehen die Toten durch den Tau Gottes

aus dem Schoß der Erde.


Sie erhalten einen neuen Körper,

wie Adam einen Körper von Gott bekam,

als er ihn aus Erde vom Acker machte,

die mit Tau benetzt worden war.


Und so heißt es auch vom Messias,

dass Gott ihn „taut”:

„Träufelt, ihr Himmel, von oben,

und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit”,

schreibt Jesaja an anderer Stelle.

Dieser Vers findet sich wieder im Adventslied:

„O Heiland, reiß die Himmel auf”:


„O Gott, ein Tau vom Himmel gieß,

im Tau herab, o Heiland, fließ.

Ihr Wolken, brecht und regnet aus

den König über Jakobs Haus.


O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,

dass Berg und Tal grün alles werd.

O Erd, herfür dies Blümlein bring,

o Heiland, aus der Erden spring.”


Und so springt unser Heiland aus der Erde hervor.


In der Finsternis des Todes,

in der Tiefe der Erde wirkt Gott das Leben.

Sein Morgentau bedeckt die Erde,

und neues Leben erwacht.