Donnerstag, 18. Mai 2023

nachfahren

Predigt an Christi Himmelfahrt, 18. Mai 2023, über Lukas 24,44-53


Liebe Schwestern und Brüder,


vor kurzem habe ich hier im Dom

eine Andacht mit Kindern der dritten Klasse gefeiert.

Darin erzählte ich ihnen das Gleichnis vom bittenden Freund:

Mitten in der Nacht klopft er bei seinem Nachbarn an

und bittet ihn um Brot für einen Gast, der unerwartet eintraf.

Jesus erzählt dieses Gleichnis,

um zu beschreiben, wie Gott ist:

Wie der Nachbar sich schließlich erweichen lässt - ob aus Freundschaft

oder wegen der Hartnäckigkeit des Störers, wissen wir nicht -

lässt sich auch Gott von uns bitten, sagte ich den Kindern;

nur brauchen wir bei ihm nur einmal zu klopfen.


Darauf meldete sich ein Junge und fragte:

Warum erzählt Jesus seinen Jüngern, wie Gott ist?

Er ist doch selber Gott!


Warum redet Jesus in Gleichnissen,

wenn er selbst der ist, von dem er spricht?


Als Jesus durch Galiläa zog und im Jerusalemer Tempel lehrte,

ahnten nicht einmal seine Jünger, wer Jesus in Wirklichkeit ist.

Dreimal prophezeite er ihnen, dass er leiden

und am dritten Tage auferstehen müsse.

Dreimal verstanden sie nicht, wovon er sprach.

Dabei zeigte Jesus immer wieder, wer er ist,

wenn er Kranke heilte, einen Toten auferweckte

oder 5.000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen sättigte.

Er war bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund.

Doch niemand zog aus seinen Worten und Taten

den Schluss, der für uns heute auf der Hand liegt:

Jesus ist Gottes Sohn.

In ihm ist Gott selbst gegenwärtig.


Selbst nach seiner Auferstehung

begriffen die Jünger:innen noch immer nichts.

Die Frauen am Grab fürchteten sich,

und die Jünger konnten es nicht glauben,

als die Frauen ihnen vom leeren Grab berichteten.

Die zwei, die nach Emmaus unterwegs waren,

erkannten ihn nicht einmal, als er neben ihnen ging

und mit ihnen sprach.

Als er das Brot für sie brach, sahen sie, dass es Jesus war.

Aber sie sahen ihn auch da noch als ihren Freund

und nicht als den, der er ist: Gottes Sohn.


Erkennen wir ihn denn?

Dass Jesus Gottes Sohn ist und in ihm Gott Mensch wurde;

dass der Heilige Geist ausgegossen wurde,

den Jesus seinen Jüngern angekündigt hatte,

und dass Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist

trotzdem ein Gott sind und nicht drei -

das ist ungefähr so leicht zu verstehen

wie Einsteins Relativitätstheorie.


Gott hat die Welt und das Weltall geschaffen.

Er ist größer als unser Universum,

das doch unvorstellbar groß ist.

„Der Himmel und aller Himmel Himmel

können dich nicht fassen”, bekennt Salomo.


Wenn wir uns Gott im „Himmel” denken

und hören, dass Christus in den Himmel aufgenommen wurde -,

dann ist dieser Himmel Gottes nicht der blaue Himmel über uns

mit seinen Hoch- und Tiefdruckgebieten,

seinen Cumulus-, Cumulonimbus- und Cirruswolken.

Er ist nicht das System aus Sonne, Mond

und den 8 oder 9 Planeten, das wir unser „Sonnensystem” nennen.

Er ist nicht der entlegene Winkel in einem Spiralarm unserer Galaxis,

in dem wir zuhause sind;

nicht unsere gigantische Milchstraße selbst

mit ihrem Durchmesser von 100.000 Lichtjahren.

Sie enthält 250 Milliarden Sterne -

und ist doch nur eine von etwa 1.000 Milliarden Galaxien

des sichtbaren Universums.


Gottes Himmel, in den Christus auffährt,

befindet sich jenseits all dessen, liegt weit darüber hinaus.

Noch dazu ist Gott größer als selbst dieser Himmel,

der über allen Himmeln ist.

Dieser Gott wurde ein Mensch wie wir,

vielleicht 1,70, 1,80 m groß, vielleicht 70 kg schwer,

und lebte unter uns.


Wie bringt man das zusammen,

1,70 m Körpergröße und die Lichtgeschwindigkeit,

300.000 km in der Sekunde,

mit der man die Entfernung der Sterne und Galaxien

und die Größe des Weltalls angibt,

die unvorstellbare Zahl von 46,6 Milliarden Lichtjahren?

Man kann sich nicht einmal ein Lichtjahr vorstellen.

Wie soll man denkend durchdringen,

wie soll man sich vorstellen,

dass Gott sogar noch größer ist als diese unendlichen Weiten?


Wir können den Unendlichen im Endlichen nicht erkennen.

Darum blieb Gott auf Erden unerkannt.

Darum erschien Jesus als bloßer Mensch,

verwechselbar mit allen anderen.

Darum haben auch seine Jünger nicht erkannt,

wer Jesus wirklich war.


Die Erkenntnis des Glaubens kann keine Erkenntnis sein,

wie sie Mathematik oder Physik hervorbringen.

Glauben heißt nicht Wissen,

Glauben bedeutet auch nicht das Verstehen,

das wir meinen, wenn wir sagen: Das habe ich jetzt verstanden.

Glaubenserkenntnis stellt sich nicht ein,

wenn man nur genug über den Glauben gelesen oder gelernt hat.


Das Verstehen des Glaubens ist ein Verständnis der Schrift.

Auch hier wieder: Kein Wissen über die Bibel.

Die Kenntnis der Alten Sprachen,

das Studium der Theologie nützen einem hier nichts.

Verständnis der Schrift bedeutet vielmehr:

ein Licht geht uns auf.

Dieses Licht ist Christus, der von sich sagt:

„Ich bin das Licht der Welt.”


Wenn uns dieses Licht aufgeht, erkennen wir:

Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde,

ist derselbe, der die Welt geschaffen

und sein Volk Israel aus Ägypten befreit hat.


Der die Propheten inspirierte

und von dem die Psalmen singen ist der,

der zur Umkehr rief, Sünden vergab,

am Kreuz starb und am dritten Tage auferstand.

Diese Erkenntnis, dass Christus Grund und Mitte der Schrift ist

- das ist der Schlüssel, der uns die Heilige Schrift, die Bibel, aufschließt.


Wie bekommt man diesen Schlüssel, wo findet man ihn?

Für uns liegt es klar auf der Hand, Jesus sagt es ja selbst:

„ich will auf euch herabsenden, was mein Vater verheißen hat.”

Gott kann man nur durch Gott erkennen.

Der Schlüssel, der uns die Schrift aufschließt,

ist Gottes Heiliger Geist.


Doch der Geist lässt sich nicht handhaben,

wie man einen Schlüssel benutzt, um aufzuschließen.

In diesem Leben, unter diesem Himmel,

der sich über uns wölbt wie das Gewölbe des Domes,

bekommen wir Gott nicht zu sehen.

Denn das würde bedeuten, dass wir in Gottes Reich vordringen.

Gottes Reich - für uns ist es nicht zu erreichen.

Und zugleich ist es uns so nah,

dass nur eine dünne Wand uns von ihm trennt.


Gottes Geist lässt sich nicht handhaben.

Wir können ihn weder begreifen noch ergreifen.

Aber er ergreift uns.

Wir merken es daran, dass wir Jesus nachfolgen.

„Nachfahren” nennt es das Lied, das wir gleich singen werden (EG 122).

Beim „Nachfolgen” denken wir ans Hinterhergehen:

„Jesu, geh voran auf der Lebensbahn!

Und wir wollen nicht verweilen dir getreulich nachzueilen.”

Wir sind Nachfolger:innen Jesu.


Und wir sind auch seine Nachfahren.

Wir sind die, die zurückbleiben, nachdem er gegangen ist.

Jesus, der aufgefahren ist in den Himmel,

hat uns, seinen Nachfahren, den Auftrag gegeben,

sein Werk fortzusetzen.

Unsere Aufgabe besteht darin,

„dass gepredigt wird in seinem Namen

Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern.”


Jesus nachfahren heißt, sein Werk fortführen:

Menschen Gottes Liebe bringen,

die sie zur Umkehr bewegt und ihnen Gottes Vergebung zuspricht.

Wer Jesus nachfährt, wird immer wieder Fragen begegnen,

wie sie der Schüler der dritten Klasse mir stellte.

Beim Versuch, auf solche Fragen die Antwort des Glaubens zu geben

in Worten oder Taten,

öffnet sich uns das Verständnis der Schrift.


Dieses Verständnis erlangt man nicht am grünen Tisch,

nicht in der Studierstube.

Sondern indem man mit dem Glauben umgeht

und Christus nachfährt, und das heißt:

sich Menschen zuwendet und ihnen Gottes Liebe entgegenbringt.

Das kann mit Worten geschehen

oder durch das, was man mit anderen oder für andere tut.

Es kann hier im Gottesdienst geschehen,

an einem Krankenbett, auf der Straße,

in der Schule oder im Büro.

Überall gibt es Menschen, die Gottes Liebe brauchen.

Wir, die Nachfahren Christi, dürfen diese Liebe weitergeben.

Wo das geschieht, blitzt in unserer kleinen Welt

das Licht auf, das Christus ist,

und Gottes Geist durchdringt und erfüllt uns.