Sonntag, 11. Juni 2023

bleiben

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni 2023, über 1.Johannes 4,13-21

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe


Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe


Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

(Erich Fried)


Liebe Schwestern und Brüder,


sprechen wir über die Liebe.


Aber kann man überhaupt über die Liebe sprechen?

Es gibt Liebesbriefe, Liebesschwüre

oder Liebesgedichte wie das von Erich Fried.

Sie sprechen mehr oder weniger beredt von dem,

was man fühlt, wenn man verliebt ist -

vielleicht zum allerersten Mal.


Wenn man, wie der 1.Johannesbrief, über Liebe spricht,

knüpft man an ein Gefühl an, das man gerade hat

oder von dem man weiß, wie es sich anfühlt.

Wer noch nie geliebt hat,

wer die Liebe noch nicht kennt,

kann dabei nicht mitreden.

Um bestimmte Wahrheiten des Glaubens zu verstehen,

braucht es Lebenserfahrung -

Erfahrungen, die man erst ab einem gewissen Alter macht.


Der 1.Johannesbrief ruft das Gefühl wach,

das alle kennen, die schon einmal geliebt haben.

Er weckt dieses Gefühl,

um uns damit eine Wahrheit unseres Glaubens zu vermitteln.

Der 1.Johannesbrief sagt: „Gott ist Liebe.”


Die Liebe ist für jede:n, die sie empfindet,

etwas Besonderes, Beglückendes.

Und zugleich ist sie eine Erfahrung,

die hoffentlich jede:r gemacht hat und gerade macht:

Etwas Alltägliches.

Liebe ist für uns so selbstverständlich

und so lebensnotwendig wie Atmen, Essen, Schlafen.


Wenn der 1.Johannesbrief sagt: „Gott ist Liebe”,

versetzt er die Liebe aus unserem alltäglichen Bereich

in die Sphäre des Göttlichen.

Man könnte sagen: Er hebt sie in den Himmel -

ein Platz, der der Liebe durchaus gebührt.

Man könnte aber auch sagen: Er nimmt sie uns weg,

macht sie von unserer Sache zu einer Sache Gottes.


Der 1.Johannesbrief will weder das eine noch das andere tun.

Er will zeigen, wie ein Leben im Glauben aussieht.

Glauben, das bedeutet für den 1.Johannesbrief: Gott lieben.

Was man liebt und vor allem: wen man liebt

nimmt die wichtigste Stelle im Leben ein.

Die Gedanken kreisen immer wieder um die Liebste, den Liebsten.

Sie, er ist ständig gegenwärtig -

auch und gerade, wenn sie nicht da ist.

Bei einem Kind macht sich das noch einmal besonders bemerkbar.

„Du machst dich heut in meinem Leben

so breit, das ich vergessen hab:

Was hat es eigentlich gegeben

damals, als es dich noch nicht gab? (…)

Denn du kommst und gibst allen Dingen

eine ganz neue Dimension.

Und was mir die Jahre bringen

mess ich an dir, kleine Person”,

singt Reinhard Mey seinem Kind zu.


Wer Gott liebt, für den nimmt Gott

eine zentrale Stelle im Leben ein.

Die Gedanken kreisen immer wieder um Gott -

auch und gerade, weil man Gott nicht sieht.

Man fragt sich, was Gott sich wünschen,

was Gott Freude machen könnte -

wie man sich das bei der Liebsten, dem Liebsten,

wie man sich das bei seinen Kindern fragt.


Was Gott sich von uns wünscht ist,

dass wir unsere Schwester, unseren Bruder lieben.

Nicht nur die Geschwister, mit denen man verwandt ist.

Schwestern und Brüder sind alle Menschen.

Weil alle Menschen Gottes Kinder sind wie wir,

sind alle Menschen untereinander Geschwister.


Geschwisterliebe kann sehr innig sein.

Das Verhältnis von Geschwistern kann aber auch

schwierig, kompliziert und distanziert sein,

bis dahin, dass Geschwister nicht mehr miteinander reden.

„Liebe” bezeichnet hier nicht ein Liebesverhältnis

wie zum Partner oder zur Partnerin,

sondern eine enge Beziehung, die niemals aufhört -

nicht einmal dann, wenn man jede Beziehung abbricht.


Die Geschwister- oder Nächstenliebe ist eine Form der Beziehung,

ein Bezogensein auf alle anderen Menschen,

mit denen man diese Welt teilt.

Man muss die anderen nicht lieben, nicht einmal gern haben,

um mit ihnen in Beziehung zu stehen.

In derselben Weise sind wir auf Gott bezogen.

Man muss Gott nicht lieben, um mit Gott in Beziehung zu stehen -

manchmal ist Gott sehr fern und fremd,

ist die Beziehung zu Gott kompliziert und distanziert.

Trotzdem ist sie da und hört niemals auf.


„Gott lieben” heißt also für den 1.Johannesbrief

nicht mehr und nicht weniger als:

sich dieser Beziehung zu Gott bewusst werden -

und damit zugleich der Beziehung zu allen Mitmenschen.

Diese beiden Beziehungen werden von Jesus

in zwei Geboten zusammengefasst (Markus 12,29-31):

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben

von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt

und mit all deiner Kraftund

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.”


Es sind also nicht nur zwei, sondern drei Beziehungen:

Die Beziehung zu Gott,

die Beziehung zum Mitmenschen

und die Beziehung zu sich selbst.

Alle drei Beziehungen können von zwei Gefühlen geprägt sein:

Von Unfreiheit und von Furcht.


„Darin ist die Liebe bei uns vollendet,

auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts.”

Vom Tag des Gerichts sprechen wir im Glaubensbekenntnis,

wenn wir beten: „Von dort wird er kommen

zu richten die Lebenden und die Toten.”

Dieser Satz des Glaubensbekenntnisses

bezieht sich auf eine Stelle im Matthäusevangelium (Mt 25,40),

wo Jesus als Richter erscheint,

der die Menschen fragt, was sie für ihn getan haben.

Denn, sagt Jesus, „was ihr getan habt einer oder einem

von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüdern,

das habt ihr mir getan.”


Dieses Gericht findet aber nicht erst am Ende der Zeiten statt.

Täglich fragt man sich, ob man genug getan hat

für die Partnerin, den Partner,

für die Kinder,

für die Eltern,

für Freundinnen und Freunde,

für Schüler:innen, Patient:innen,

für Menschen in Not.

Nie ist man sich sicher, ob es wirklich genug war.

Ob man nicht mehr hätte tun müssen,

länger bleiben, besser zuhören, mehr Kraft investieren,

freundlicher, großzügiger oder geduldiger sein.

Man fühlt sich nicht frei,

weil man anderen immer etwas schuldig bleibt.


Diesem Gefühl, nicht genug getan zu haben,

kommt Gott mit seiner Liebe entgegen.

Gottes Liebe rechtfertigt uns.

„Rechtfertigung” heißt auf Latein satisfactio, Genugtuung.

Wer gerechtfertigt ist, hat genug getan.

Wir müssen uns nicht schuldig fühlen,

uns nicht mit Schuldgefühlen beladen.

Das macht uns frei, zu leben und zu lieben

und dadurch tatsächlich viel und genug zu geben und zu tun.


Das andere Gefühl ist die Furcht, die Angst vor Strafe.

Zu der Frage, ob man genug für andere getan hat,

vor allem für die Menschen, die man liebt

und denen man sich verpflichtet fühlt,

kommt die Frage, ob man gut genug ist.

Mit dieser Frage wächst man auf.

Schon als Kind wird man verglichen und bewertet:

„Du siehst aus wie deine Mutter!”

„Du bist aber groß geworden!”

„Das hast du fein gemacht!”

Das ist alles nett und liebevoll gemeint.

Trotzdem wird damit Kindern von klein auf beigebracht,

dass sie Erwartungen erfüllen und Ansprüchen genügen müssen.

In der Schule setzt sich das fort

und hört niemals wieder auf.


Mit der Zeit hat man keine Angst mehr

vor dem Ausgeschimpftwerden oder vor der schlechten Zensur.

Denn die strengste Richterin, der unbarmherzigste Richter

uns gegenüber sind wir selbst.


Auch hier kommt uns Gott mit seiner Liebe entgegen

und nimmt uns an so, wie wir sind.

Das ist nicht ein Annehmen,

wie wir bestimmte Dinge hinnehmen,

die nun einmal nicht zu ändern sind.

Das ist Liebe: Gott will uns nicht anders haben

als so, wie wir sind.

Wir müssen uns nicht ändern,

wir müssen nicht besser werden, schöner, schlanker,

klüger, gesünder, wohlhabender, fleißiger,

um für Gott liebenswert zu sein.


„Furcht ist nicht in der Liebe,

sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.”

Wie erreicht man diese vollkommene Liebe,

die die Furcht besiegt, man sei nicht gut genug

und die Freiheit schenkt, genug getan zu haben?

„Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat:

Gott ist Liebe;

und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.”


Alles, was zu tun nötig ist, ist bleiben.

Bleiben bedeutet hier nicht, dass man nicht weggeht,

dass man die Beziehung nicht aufgibt -

das ist gar nicht möglich,

weil wir unsere Beziehung zu Gott niemals verlieren können.

Wir bleiben Kinder Gottes,

wie wir die Kinder unserer Eltern bleiben

und die Geschwister unserer Schwestern und Brüder,

wie auch immer die Beziehung aussieht, die wir zu ihnen haben.


Bleiben bedeutet, in Beziehung zu Gott zu leben.

Im Bewusstsein, dass Gott da ist

und dass Gott mich liebt,

über alle Maßen liebt.


„Es ist, was es ist, sagt die Liebe.”

Kein Überschwang ist nötig,

kein Opfer, kein Verzicht.

Nur sehen und erkennen, was da ist,

was immer da war und immer da sein wird:

Gottes bedingungslose, unendliche Liebe.