Sonntag, 25. Juni 2023

Gerechtigkeit

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2023, über Jona 3,10-4,11

Liebe Schwestern und Brüder,


Gerechtigkeit ist ein Thema, das wohl niemanden kalt lässt.

Und nichts kann so sehr in Rage bringen,

nichts lässt so schnell Partei ergreifen

wie vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeit.

Wie gemein, wenn der Schiedsrichter

ein gegnerisches Foul nicht pfeift

oder ein Tor der eigenen Mannschaft nicht gibt,

weil der Torschütze angeblich im Abseits stand!

Wie genau achtet man beim Teilen

einer Pizza oder eines Kuchens darauf,

dass alle Stücke gleich groß sind

und auf jeden Fall niemand mehr bekommt als ich.

Wie schmerzt es, wenn ein:e Kolleg:in früher befördert wird,

mehr verdient, besser gestellt ist als man selbst.

Am schlimmsten aber scheint es, wenn andere etwas erhalten,

von dem manche meinen, dass sie es nicht verdient haben.

Sozialleistungen zum Beispiel,

die an Arbeitslose oder Asylbewerber:innen ausgezahlt werden.

Das bringt solche Leute gewaltig in Rage,

obwohl sie selbst keinen Nachteil davon haben.

Aber ihr Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt.


Auch in der Bibel ist Gerechtigkeit ein Thema.

Da steht zum Beispiel (3.Mose 19,13):

„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.

Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen” -

das heißt: ein Arbeiter soll noch am selben Tag seinen Lohn erhalten.

Ein Gebot zum Schutz von Arbeitnehmer:innen

lange vor Erfindung der Gewerkschaften.

Und weiter (3.Mose 19,15):

„Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht:

du sollst den Geringen nicht vorziehen,

aber auch den Großen nicht begünstigen,

sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.”

Oder (3.Mose 19,33):

„Wenn ein Fremder bei euch wohnt im Land,

den sollt ihr nicht bedrücken.

Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer,

und du sollst ihn lieben wie dich selbst.”


Die Gerechtigkeit, von der die Bibel spricht,

und die Gerechtigkeit, für die wir uns engagieren,

unterscheiden sich an einem bestimmten Punkt:

Wir empfinden es als empörend,

wenn Gegner eines Regimes in Prozessen,

die nicht fair und rechtsstaatlich geführt werden,

zu langen Haftstrafen verurteilt werden.

Man kann sich aufregen über Korruption, Vetternwirtschaft,

über die Missbrauchsskandale in der Kirche

oder darüber, dass wir Flüchtende im Mittelmeer ertrinken lassen.

Aber nichts bringt uns so sehr auf die Barrikaden

wie das Gefühl, dass wir selbst ungerecht behandelt werden

oder Menschen, die uns nahe stehen.

Wenn es um Gerechtigkeit geht,

ist uns das Hemd näher als die Jacke,

kommen erst wir selbst und unsere Familie

und dann die anderen.


So empfand auch der Prophet Jona.

Er fühlte sich ungerecht behandelt.

Er sah sich um den Lohn seiner Mühe gebracht:

Die gerechte Strafe, die er den Leuten von Ninive angekündigt hatte,

blieb aus.

Dabei hatten sie es verdient - er hatte ja selbst gesehen,

wie sie lebten und sich benahmen.

Das Wissen um ihre Bosheit und Verderbtheit

hatte ihn von seinem Auftrag zurückschrecken lassen.

Er hatte die Flucht davor ergriffen -

und musste schließlich doch,

trotz aller innerer und äußerer Widerstände,

den Bewohnern von Ninive Gottes Strafgericht ausrichten:

in 40 Tagen wird Ninive untergehen.”

Und nun sollte dieses Spektakel ausfallen,

bloß, weil die Leute von Ninive ihre Ungerechtigkeit bereuten?


Dann ging auch noch sein Sonnenschutz ein,

der Rizinus mit seinen großen Blättern,

die ihm angenehmen Schatten spendeten,

während er darauf wartete,

dass Feuer und Schwefel vom Himmel regneten

wie beim Untergang von Sodom und Gomorra.


Auch wir sehen uns manchmal vom Pech verfolgt.

Alle anderen bleiben gesund -

ausgerechnet ich fange mir eine Erkältung ein.

Bei allen anderen verläuft die Infektion glimpflich -

ich bin zwei Wochen völlig außer Gefecht gesetzt.

Ausgerechnet ich werde geblitzt,

ausgerechnet mir wird das Handy geklaut.

Ausgerechnet mir muss dies oder das passieren.

Man macht das Schicksal dafür verantwortlich.

Und manchmal fragt man auch Gott,

wie er solche Ungerechtigkeit zulassen kann:

Warum gerade ich?


Zu diesem persönlichen Pech,

den Schicksalsschlägen, die man erlebt,

kommt noch die systemische Benachteiligung:

Als Ostdeutsche:r verdient man immer noch weniger als im Westen,

als Frau verdient man deutlich weniger als ein Mann,

als Hausfrau bekommt man eine Rente,

von der man nicht leben und nicht sterben kann.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine

hat die Preise in die Höhe getrieben,

und der Klimawandel zwingt zum Einbau neuer Heizungen,

die man nicht bezahlen kann.

Das ist alles so ungerecht!


Weil das alles so ungerecht ist,

weil uns diese Ungerechtigkeit so aufregt und schmerzt,

hat eine Partei gerade Zulauf,

die einfache Lösungen gegen diese Ungerechtigkeit anbietet.

Die Antworten dieser Partei lauten ungefähr so:

Wenn man den Klimawandel leugnet,

muss man keine Heizungen tauschen

und keine teuren e-Autos kaufen.

Wenn man sich mit Putin einigt,

wird alles wieder billiger;

was mit der Ukraine passiert, kann uns doch egal sein.

Wenn man keine Flüchtlinge mehr ins Land lässt,

bleibt mehr Geld für die eigenen Leute.

Und wenn Frauen wieder ihrer Rolle

als Hausfrau und Mutter nachkommen,

gibt es keine Arbeitslosigkeit mehr

und keine Ungleichheit bei der Bezahlung.


Es könnte alles so einfach sein,

die Lösungen liegen doch geradezu auf der Hand!

Warum machen wir es uns absichtlich so schwer?


Weil eine Gesellschaft nicht funktioniert,

wenn nicht alle die gleichen Rechte und Chancen haben.

Weil eine Gemeinschaft nur existieren kann,

wenn niemand ausgegrenzt, benachteiligt, bedrückt wird.

Denn Ungleichheit, Ungerechtigkeit können auf Dauer

nur mit Zwang und Gewalt aufrecht erhalten werden.

Mit Zwang und Gewalt aber

kann keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft,

keine Familie gedeihen.

Gemeinschaft braucht Gerechtigkeit.

Das gilt für den kleinen Kreis der Familie,

für das Zusammenleben in unserer Stadt;

das gilt für unser Land

und die weltweite Gemeinschaft aller Völker.

Und das gilt auch für unsere Gemeinschaft mit Gott.


Die Gerechtigkeit, die Gott von uns erwartet,

ist nicht der sonntägliche Gottesdienstbesuch,

das regelmäßige Beten oder die Zahlung der Kirchensteuer.

Gott erwartet von uns, dass wir unseren Nächsten,

unseren Mitmenschen,

die selben Rechte zugestehen wie uns.

Dabei ist der Begriff des „Nächsten”, des Mitmenschen

so weit gefasst, dass er auch Fremde beinhaltet -

sogar Menschen, die nicht in unserem Land leben,

die wir gar nicht sehen

und denen wir wahrscheinlich niemals begegnen werden.


Wenn wir anderen diese Gerechtigkeit verweigern,

die wir für uns selbst beanspruchen,

gefährden wir unsere Beziehung zu Gott.


Gott würde sich dennoch nicht von uns abwenden,

wie er sich auch nicht von Jona abwendet,

sondern sich darum bemüht, dass er versteht:

Das Leben der anderen ist ebenso wertvoll wie sein eigenes.

Wie Gott Jona mit Hilfe des Fisches

aus dem tobenden Meer rettete,

so will er auch die Menschen von Ninive retten.

Er macht keinen Unterschied

zwischen ihrer Schuld und Jonas Schuld.

Jona steht ihm auch nicht näher, weil er zu Gottes Volk gehört

und die Leute aus Ninive nicht.

Worauf es Gott ankommt, ist die Reue,

die sie genauso empfinden wie Jona,

und die Umkehr, die sie wie er vollziehen.


Gott entzieht Menschen seine Liebe und seine Vergebung nicht,

wenn sie eine Partei wählen,

die Hass auf Fremde und Andersdenkende,

anders Lebende und Liebende schüren

und die Gesellschaft spalten will.

Die das Rad der Geschichte zurückdrehen will

bis zu einer Zeit, die für die meisten von uns

eine Zeit unfassbarer Grausamkeiten war,

für die wir uns noch als Enkelkinder der Täter schämen.


Aber Gott hört nicht auf, sie und uns zu mahnen,

dass wir dem Untergang entgegengehen,

wenn wir diesen Weg einschlagen.

Und dass der Weg zum Leben nur in der Umkehr liegt:

Der Umkehr zur besseren Gerechtigkeit Gottes,

die das eigene Wohl ebenso im Blick hat wie das des Nächsten.

Die ihren Gottes-Dienst darin sieht,

sich für die einzusetzen und stark zu machen,

die sich selbst nicht Gehör verschaffen können,

wie es der Prophet Jesaja fordert (Jesaja 1,17):

„Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht,

helft den Unterdrückten,

schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!”


Wir können so tun, als hörten wir nicht.

Als gingen uns die anderen, die Fremden, nichts an.

Wir können wie Jona unter unserem Rizinus sitzen,

auf die Ungerechtigkeit der Welt schimpfen

und allen den Tod wünschen, die nicht so sind wie wir.


Oder wir können ernst nehmen,

dass Gott uns zu seinem Bilde geschaffen

und uns mit Liebe begabt hat.

Liebe, die nicht nur uns selbst gilt,

sondern auch unseren Mitmenschen

in der Nähe und in der Ferne.

Liebe, die aller Kreatur gilt,

der gesamten Schöpfung, für die wir verantwortlich sind.

Wenn wir diese Liebe ernst nehmen,

wenn wir mitfühlend werden,

dann werden wir Gottes Nähe spüren,

das Leuchten seines Angesichts auf uns

und seine unendliche Liebe zu uns und zu allem Lebendigen.


Wir haben die Wahl.

Es ist unsere Entscheidung.