Samstag, 24. Juni 2023

Veränderung

Ansprache zum Johannistag, 24.6.2023, über Jesaja 40,1-11

„Alle Täler sollen erhöht werden,

und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,

und was uneben ist, soll gerade,

und was hügelig ist, soll eben werden;

denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.”


Liebe Schwestern und Brüder,


Jesaja spricht von Revolution.

Denn das ist doch genau die Bedeutung von Revolution:

Alle Täler werden erhöht,

alle Berge und Hügel erniedrigt.

Das Unterste wird zuoberst gekehrt.

Die, die vorher unten waren, sind jetzt oben.

So war es bei der französischen Revolution von 1789,

als die Herrschaft vom König und Adel auf die Bürger überging.

So war es bei der Oktoberrevolution von 1917,

als die Bolschewiki in Russland die Macht übernahmen.


Doch wie es so geht im Leben -

die neuen Machthaber waren auf Dauer nicht besser als die alten.

Robespierre ließ in Paris die Köpfe rollen,

bis er selbst einen Kopf kürzer gemacht wurde.

Und auch die Bolschewiken machten kurzen Prozess

mit ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern.


Die Revolutionen haben den Menschen Freiheiten gebracht -

wo wären wir heute ohne die Menschenrechte?

Wo ohne Chancengleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz?

Doch so groß die Errungenschaften auch waren:

Die Gewalt, der Terror, die Ungerechtigkeit,

die mit diesen Revolutionen einher gingen,

haben das Wort „Revolution” zu einem Menetekel gemacht.

Revolution war nichts, was man ersehnte -

es sei denn, man hatte nichts mehr zu verlieren.


Bis zur „friedlichen Revolution” 1989.

Sie bewies, dass ein Umsturz auch ohne Gewalt möglich war.

Ein Umsturz, der gewaltige Folgen hatte:

Mit der Mauer wurde auch der „Eiserne Vorhang” eingerissen.

Der „Kalte Krieg” war zu Ende.

Manche Historiker sprachen damals vom „Ende der Geschichte”:

Nachdem die Demokratie sich scheinbar durchgesetzt hatte,

konnte offensichtlich nichts Besseres mehr kommen.


Heute wissen wir, dass das ein Irrtum war.

Die Geschichte war mit 1989 nicht zu Ende, im Gegenteil:

Das Rad der Geschichte holte nur neuen Schwung.

Heute stehen wir vor Problemen,

die wir 1989 weit hinter uns gelassen zu haben glaubten.

Was niemand mehr für möglich hielt

und keine:r sich vorstellen konnte,

ist seit anderthalb Jahren wieder bittere Realität:

Es herrscht Krieg in Europa.

Der Klimawandel, damals schon prophezeit,

stellt uns heute vor Herausforderungen,

die wir noch gar nicht richtig begreifen können.


Auch die Kirche hat sich seitdem verändert.

Ihre letzte große Revolution, der Thesenanschlag Martin Luthers,

liegt schon 500 Jahre zurück.

Mit der Reformation wurde Revolution sogar zum Programm erhoben:

ecclesia semper reformanda - Kirche muss sich ständig erneuern,

heißt es seitdem.

Aber seit längerem schon kann die Kirche mit den Veränderungen

der Gesellschaft und der Umwelt nicht mehr Schritt halten.

Erstmals seit der Einführung des Christentums in Europa

machen Christ:innen weniger als die Hälfte der Gesellschaft aus,

Tendenz fallend.


Was wurde nicht alles versucht,

diese Entwicklung aufzuhalten oder gar umzukehren.

Von der Inneren Mission,

die von Johann Hinrich Wichern ins Leben gerufen wurde,

bis heute hat es ungezählte Anstrengungen gegeben,

Menschen für das Christentum, für die Kirche zu begeistern.

Auch hier, in der Domgemeinde,

würde die Liste der Unternehmungen,

mit denen Menschen in den Dom gelockt werden sollten,

wahrscheinlich ein ganzes ganzes Schulheft füllen.


Das Bemerkenswerte daran ist:

Wir geben nicht auf.

Obwohl doch schon alles probiert wurde,

überlegen wir trotzdem wieder und wieder,

wie wir Menschen für den Dom interessieren,

für die Sache Jesu begeistern können.

So viele engagieren sich,

geben Zeit, Kraft und Geld,

um den Dom zu öffnen und instand zu halten,

Gottesdienste, Konzerte vorzubereiten,

die, die zu uns gehören, zu betreuen

und neue Gemeindeglieder zu gewinnen.

Niemand zieht sich auf seinen Platz in der Kirchenbank zurück,

niemand denkt: Das hat doch alles keinen Sinn.

Niemand sagt: Der Letzte macht das Licht aus.


Und wenn doch jemand die Hoffnung verliert,

alle Anstrengung für vergeblich hält,

dann wecken das Erlebnis der Osternacht

oder der Nacht der Chöre,

dann weckt das Gefühl,

in der Gemeinde zuhause und getragen zu sein,

den Wunsch, dieses Erlebnis auch anderen zu ermöglichen.


Und doch gibt es einen Reformstau,

der die Kirche irgendwann einholen und überrollen wird.

Es ist noch nicht abzusehen, was zuerst ausgeht:

das Geld, oder die hauptamtlich Mitarbeitenden.

Wir werden eher früher als später

nicht mehr alle Kirchengebäude erhalten,

nicht mehr alle Mitarbeitenden bezahlen können.

Und in manchen ländlichen Gebieten Mecklenburgs

gibt es schon jetzt nicht mehr genug Gemeindeglieder,

die eine Mitarbeiterstelle rechtfertigen könnten.

Auch die Gemeinden in Schwerin

werden vermutlich enger zusammenrücken,

werden Ressourcen und Mitarbeiter teilen

und aufeinander zugehen müssen.


Wie sollte es auch anders sein in einer Gesellschaft,

die sich so radikal verändert, wie wir es gerade erleben.

Die Kirchen, immer schon ein Zufluchtsort,

ein Ort des Asyls, eine Insel für Andersdenkende,

können nicht hoffen, ungeschoren zu bleiben.

Der Dom wird hoffentlich noch einmal 850 Jahre stehen.

Aber er kann uns nicht vor den Veränderungen schützen,

die nötig und unausweichlich sind.


Was uns dabei Mut machen kann:

Diese Domgemeinde hat Erfahrungen mit Veränderungen.

Seine heutige Gestalt erhielt der Dom,

weil zwei Pastoren, Pastor Hebert und Pastor Pilgrim,

zusammen mit dem Kirchengemeinderat

eine damals radikale Umgestaltung des Kirchenraums durchsetzten.

Dabei wurden sie von vielen aus der Gemeinde unterstützt -

einige, die heute hier sind,

kletterten damals in schwindelnder Höhe auf dem Gerüst herum

und schwangen den Pinsel.

Was damals neu und unerhört war und auch Widerstand hervorrief -

ein Beispiel dafür sind die weißen Talare -,

ist heute eine Tradition, die gefühlt „schon immer” existierte

und auf die die Domgemeinde zu recht stolz ist.


Veränderungen machen Angst.

Man möchte gern, dass alles so bleibt, wie es ist.

Aber die Geschichte lehrt uns, dass es nie so war.

Immer schon wurde etwas verändert,

wurde Neues versucht und durchgesetzt,

das uns heute als ewig und unverrückbar erscheint.

Wahrscheinlich stimmt der Satz:

Wer will, dass die Kirche so bleibt, wie sie ist,

der will nicht, dass sie bleibt.


Was uns in aller Veränderung trösten und Halt geben kann

ist die Einsicht, dass die Kirche nicht unseretwegen da ist,

sondern weil Christus Menschen zu Menschenfischern berief.

Dass wir Gottesdienste nicht feiern,

damit der Pastor reden und der Kantor seine Kunst zeigen kann,

sondern um Gott die Ehre zu geben

und uns von Gottes Wort Weg und Richtung zeigen zu lassen.

Christus ist der Herr der Kirche.

Seinetwegen existiert sie,

um seinetwillen ist sie da,

und weil er es will, wird sie immer da sein.

In welcher Gestalt, das können wir nicht wissen.

Aber daran hängt auch nicht das Heil der Kirche.

Christus baut sich seine Kirche, wo er will,

und uns kann und will er dazu gebrauchen.


Wie wunderbar, dass es so viele sind,

die sich in dieser Gemeinde

von Christus haben rufen und in Dienst nehmen lassen!

Es erscheint selbstverständlich -

doch das ist es ganz und gar nicht.

Es ist alles andere als selbstverständlich,

dass Sie Zeit, Kraft und Geld geben,

damit andere, auch und gerade viele fremde Menschen,

hier im Dom Gottes Wort hören,

den Zauber der Musik erleben

und die Schönheit dieser Kirche bewundern können.

Im Namen all dieser Menschen

möchte ich Ihnen von ganzem Herzen dafür Danke sagen.

Das will ich tun nach dem Lied,

das wir jetzt singen:

„Vertraut den neuen Wegen.”