Sonntag, 27. August 2023

Das Wunder, das wir sind

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2023, über Jesaja 29,17-24:

Noch ein klein wenig,

dann wird der Libanon zu einem Baumgarten werden

und der Baumgarten als Wald gelten.

An diesem Tage werden die Tauben

die Worte des Buches hören,

und aus Dunkelheit und Finsternis

werden die Augen der Blinden sehen.

Die Geringen werden wieder Freude haben am Herrn,

und die Armen unter den Menschen

werden über den Heiligen Israels frohlocken.

Denn ein Ende hat Tyrannenmacht, und der Spötter vergeht,

und ausgerottet werden alle, die auf Böses lauern:

Die einen Menschen durch ein Wort als schuldig hinstellen

und den, der im Tor Recht spricht, mit dem Stellholz fangen

und durch Nichtiges den Gerechten beugen.


Darum, so spricht der Herr, der Abraham erlöst hat,

zum Haus Jakob: Jakob soll sich nicht mehr schämen

und sein Gesicht soll nicht mehr erbleichen.

Denn wenn er sehen wird seine Kinder, das Werk meiner Hände,

in seiner Mitte,

werden sie meinen Namen heiligen

und den Heiligen Jakobs heilig sein lassen

und den Gott Israels fürchten.

Und die im Geist Verwirrten werden Verstehen erlangen,

und die Unzufriedenen Einsicht lernen.



Liebe Schwestern und Brüder,


alles Neue, jeder Fortschritt beginnt mit dem Zweifel.

Dem Zweifel, ob alles so bleiben muss, wie es ist

und der Frage, ob es nicht anders sein könnte, anders ginge.


Diese Frage stellt sich nicht von selbst;

der Zweifel kommt nicht von allein.

Wer nie das Licht sah,

das Spiel der Farben, die Pracht eines Sonnenuntergangs,

wie sollte er wissen, dass ihm etwas fehlt, und was ihm fehlt?

Wer nie hören konnte, wie sollte sie den Klang

der Worte, Töne und der Musik kennen, lieben und ersehnen?

Wer nur die Steppe kennt,

mit trockenem Gras und kümmerlichen Sträuchern,

weiß nichts von einem Wald, strotzend vor Grün,

mit mächtigen, hohen Bäumen;

kann sich nicht vorstellen,

wie kühl es unter dem Blätterdach ist,

wie herrlich das Wasser im Bach plätschert und sprudelt.


Wann fängt man an zu fragen?

Wo beginnt der Zweifel?


„Als das Kind Kind war,

war es die Zeit der folgenden Fragen:

Warum bin ich ich und warum nicht du?

Warum bin ich hier und warum nicht dort?

Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?

Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?

Ist, was ich sehe und höre und rieche,

nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?

Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,

die wirklich die Bösen sind?

Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,

bevor ich wurde, nicht war,

und dass einmal ich, der ich bin,

nicht mehr, der ich bin, sein werde?”


(Peter Handke, Lied vom Kindsein)


Kinder fragen.

Oh, sie haben tausend Fragen, die Kinder.

Und wenn sie zu viel fragen,

sagt wohl mal ein:e Erwachsene:

„Warum, warum, warum

ist die Banane krumm?

Warum hat die Kokosnuss

noch immer keinen Reißverschluss?”

Das Kind lernt daraus,

dass seine Fragen stören

und sein Wunsch nach Verstehen nicht respektiert wird.


Dabei beginnen die Fragen und die Zweifel

mit dem Warum,

mit dem Versuch, die Welt zu verstehen,

Vielleicht fällt die Reaktion Erwachsener so aus,

weil die Fragen der Kinder

sie ganz schön in Verlegenheit bringen.

Nicht nur die eine, berühmt-berüchtigte Frage,

auf die man mit den Blümchen und den Bienchen

oder mit dem Klapperstorch antwortet.

Sondern auch die Frage,

warum Kinder, die genau so alt sind wie unsere,

in Afrika Hunger leiden oder verhungern müssen,

wenn es bei uns doch so viel zu essen gibt.

Die Frage, warum es Krieg gibt, Panzer und Bomben.

Die Frage, warum wir immer noch Auto fahren,

wenn doch schon jetzt viel zu viel Kohlendioxid in der Luft ist.


Wir Erwachsenen reagieren ungehalten auf solche Fragen.

Wir wissen keine Antwort darauf und spüren:

Wir sind unseren Kindern die Antwort schuldig.

Eigentlich haben wir selbst einmal solche Fragen gestellt.

Wann haben wir verlernt, so zu fragen?

Wann haben wir uns daran gewöhnt zu antworten,

dass es nun mal so zugeht in der Welt,

dass es nun mal nicht zu ändern ist?

Warum haben wir akzeptiert,

dass bestimmte Entscheidungen „alternativlos” sind,

und warum glauben manche,

dass Nationalismus, Chauvinismus und Fremdenhass

eine Alternative für Deutschland sein könnten?


Alles Neue, jeder Fortschritt beginnt mit dem Zweifel.

Und doch bleibt manches, wie es immer schon war.

Wie politische Gegner

oder unbequeme Kritiker verleumdet werden;

wie Mächtige versuchen, die Justiz zu behindern

und deren Macht zu beschneiden

und wie Rechtschaffene als „Gutmenschen”

verächtlich gemacht werden:

das können wir schon bei Jesaja über die lesen,

„die einen Menschen durch ein Wort als schuldig hinstellen

und den, der im Tor Recht spricht, mit dem Stellholz fangen

und durch Nichtiges den Gerechten beugen.”


Jesaja rechnet fest damit, das sich das ändert.

Bald, nur noch eine kleine Weile,

dann geht ein Aufatmen durch die Welt.

Es beginnt in der Natur,

die zu neuem Leben erwacht;

es öffnet den Blinden die Augen und den Tauben die Ohren

und fegt schließlich die Diktatoren hinweg,

die Spötter, denen nichts heilig ist

und die Skrupellosen, die das Recht zu ihren Gunsten beugen.


Seit diesen Worten Jesajas ist viel Zeit vergangen.

Ein Tyrann hat den anderen abgelöst.

Länder, die einmal die Freiheit der Demokratie kosteten,

fallen zurück in autoritäre Herrschaftsformen

oder werden mit Krieg überzogen,

weil sie sich fremder Übermacht nicht beugen wollen.

Steppen und Wüsten nehmen zu.

Und wenn auch die Medizin große Fortschritte gemacht hat:

Verblendung und Hass,

Taubheit gegenüber der Wahrheit,

Blindheit für das Leid und die Not der anderen

kann sie bis heute nicht heilen -

wird sie wohl nie heilen können.


Die neue Welt, die Jesaja kommen sieht,

können Menschen nicht schaffen.

Zu oft ist es versucht worden.

Jeder dieser Versuche endete in einem schrecklichen Desaster.

Nur Gott kann Neues schaffen,

nur er menschliche Willkür und Bosheit überwinden.

Und Gott schafft Neues: die Kinder in unserer Mitte.

Sie sind Gottes Versprechen,

dass „eine Grenze hat Tyrannenmacht”.

In jedem Kind, das geboren wird,

geht eine neue Welt auf.

Mit den Augen eines Kindes lernen wir, neu zu sehen.

Mit seinen Fragen nach dem Warum

öffnet es uns die Ohren

und erinnert uns, wie auch wir einmal gefragt haben.


In jedem Kind geht eine neue Welt auf.

Eine Welt, von Gott geschaffen.

Sie kann grünende Wälder hervorbringen.

Sie kann uns die Wahrheit sehen lassen

und die Ungerechtigkeit.

Sie fegt Bosheit, Gemeinheit und Gier hinweg.

Aber sie ist ein zartes Pflänzchen, diese Welt.

Wir müssen es behüten,

ihm Raum zum Wachsen, Luft zum Atmen,

Liebe und Güte als Nahrung geben.


Wie verletzlich und zerbrechlich ein Kind ist,

davon kann Bettina Wegner ein Lied singen:


„Sind so kleine Hände, winzge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann.


Sind so kleine Füße mit so kleinen Zehn.
Darf man nie drauf treten, könn sie sonst nicht gehn.


Sind so kleine Ohren scharf, und ihr erlaubt.
Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub.


Sind so schöne Münder, sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus.


Sind so klare Augen, die noch alles sehn.
Darf man nie verbinden, könn sie nichts verstehn.


Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen, gehn kaputt dabei.


Ist son kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.”


Wir Menschen machen so viel kaputt.

Wir treiben den Kindern das Träumen,

wir treiben ihnen das Zweifeln und die Fragen aus,

weil wir wollen, dass sie so werden wie wir.

Vielleicht wäre es anders,

wenn wir mehr Respekt hätten vor dem Wunder,

das jedes einzelne Kind ist;

vor dem Neuen, das Gott geschaffen hat.


Ein Kind kann uns Ehrfurcht lehren.

Es kann uns lehren, dass uns etwas heilig ist:

Dieses Kind ist uns heilig,

dem wir alles Glück der Welt wünschen und gönnen,

das wir lieben und bestaunen

und auf das wir stolz sind.

Dieses Kind ist eine Schöpfung Gottes.

Darum sollte uns Gott, der Schöpfer, heilig sein

und alles, was er geschaffen hat.


Ein Kind kann uns lehren,

dass wir selbst einmal Kinder waren

und immer noch Kinder sind: Gottes Kinder,

von ihm geschaffen.

Jede und jeder von uns ein neuer Anfang.

Jede und jeder von uns liebenswert und staunenswert:

ein Wunder.

Auch wir haben noch Träume,

haben Fragen und unsere Zweifel.

Vielleicht wäre die Welt eine andere,

wenn wir mehr Respekt hätten vor dem Wunder,

das jede:r Einzelne von uns ist -

dem Wunder, das jeder Mensch ist,

jedes Geschöpf auf Gottes wunderbarer Erde.


„Wenn Israel sehen wird seine Kinder, das Werk meiner Hände,

in seiner Mitte,

werden sie meinen Namen heiligen

und den Heiligen Jakobs heilig sein lassen

und den Gott Israels fürchten.”


„Wenn Israel sehen wird …”


Es kommt darauf an, hinzusehen

und das Wunder zu erkennen,

das diese Welt, jeder Mensch,

jedes Lebewesen auf ihr ist.


Das Wunder der Welt weist auf ihren Schöpfer.

Ihn als Schöpfer zu erkennen

und die Welt als seine Schöpfung zu bewahren heißt,

ihn heilig sein lassen.


Nach Recht und Gerechtigkeit,

nach Gottes Gebot zu fragen

und danach zu leben heißt,

den Gott Israels fürchten.


Gottes Namen heiligen heißt,

jedem, der sich Macht über andere anmaßt

die Grenze aufzeigen, die Gott uns gesetzt hat.


Wir schaffen keine neue Welt,

auch unsere Kinder und Enkel nicht.

Gott wird eine neue Welt schaffen

und schafft sie schon jetzt

mit jedem Menschenkind, das geboren wird,

mit jeder und jedem von uns.

Wenn wir Gottes Namen heiligen,

Gott heilig sein lassen und ihn fürchten

besteht eine Chance,

dass auch unsere Kinder

sich an der Schönheit dieser Welt erfreuen

und ihren Kindern einmal davon werden erzählen können,

wer sie und alles geschaffen hat.