Sonntag, 13. August 2023

Mit Gott im Bund

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 13. August 2023, über Dtn 4,5-20


Liebe Schwestern und Brüder,


ein einziger Tag kann über das ganze weitere Leben entscheiden

und es für immer verändern.


Da ist natürlich zuerst der Geburtstag,

ohne den es uns nicht gäbe

und den wir deshalb jedes Jahr begehen -

und mit uns die Menschen,

die froh sind, dass wir auf der Welt sind:

Eltern, Geschwister, Liebste, Kinder,

Freundinnen und Freunde.


Paare begehen ihren Jahrestag:

Der Tag, an dem aus zwei Einzelnen

etwas Neues wurde, eine Einheit, ein Paar,

das seit diesem Tag alles miteinander teilt.

Wie einschneidend das war,

wie sehr sich das eigene Leben dadurch veränderte,

wird einem oft erst nach einer Trennung

oder dem Verlust des Partners oder der Partnerin bewusst.


Es gibt noch andere Tage,

nach denen das Leben nicht mehr ist wie zuvor:

Ein schwerer Unfall;

eine Krankheit;

ein schweres Leid

können einen Lebensweg durchkreuzen,

Pläne und Hoffnungen zunichte machen,

sodass man vor den Trümmern seines bisherigen Lebens steht

und nicht weiß, wie es weitergehen, wie man weiterleben soll.


Und dann gibt es noch Tage,

die nicht nur für eine:n selbst,

sondern für alle die Lebensbedingungen verändern,

das Leben auf den Kopf stellen.

Solche Tage gehen gewöhnlich in die Geschichtsbücher ein.


Der 9. November 1989 war so ein Tag.

Alle, die ihn erlebten, werden ihn nie vergessen -

und auch nicht das, was sie damals empfanden.

Wer ihn erlebte, weiß noch genau,

wo er damals war, was er damals tat.

Immer wieder wird es erzählt,

wenn sich Zeitzeugen treffen;

auch Kinder und Enkel haben die Geschichten schon oft gehört.


„Du sollst deinen Kindern und Enkelkindern

kundtun den Tag, da du vor dem Herrn, deinem Gott,

standest an dem Berg Horeb.“


Auch dies ein Tag, der alles veränderte:

Der Tag, an dem Gott den Bund mit seinem Volk Israel schloss

und ihn durch die Gabe der Zehn Gebote besiegelte.

Zehn Gebote bezeichnen den Inhalt dieses Bundes:

Ein Leben, das nach Gottes Willen fragt

und sich davon leiten lässt.

Ein Leben in Gemeinschaft mit allen,

die sich ebenso diesem Willen Gottes unterworfen haben.


Beides gehört untrennbar zusammen:

Die Gebote auf sich nehmen,

und dies gemeinsam tun.

Die Gebote sind kein Selbstzweck.

Keine Anleitung für eine religiöse Gymnastik,

die man daheim im stillen Kämmerlein übt.


Die Gebote begründen die Beziehung zu Gott.

Eine Beziehung, genauso intensiv und verbindlich

wie die zur Partnerin, zum Partner,

zu Eltern, Geschwistern, Kindern oder Enkeln.

Diese Beziehung zu Gott ist nicht möglich

ohne Beziehung zu den Mitmenschen.

Wie ich mich anderen gegenüber verhalte,

wirkt sich unmittelbar auf mein Verhältnis zu Gott aus.

Wenn ich mit anderen in Unfrieden lebe,

kann ich auch nicht mit Gott in Frieden sein.

So fordert Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,23-24):


„Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst

und dort kommt dir in den Sinn,

dass dein Bruder etwas gegen dich hat,

so lass dort vor dem Altar deine Gabe

und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder,

und dann komm und opfere deine Gabe.”


Jesus spricht von „Brüdern” und „Schwestern”.

Der Glaube an Gott intensiviert auch

die Beziehung zu den Mitmenschen,

sodass sie wie Geschwister werden.


Zwischen Geschwistern herrscht eine besondere Verbundenheit.

Sie ist nicht immer von Sympathie getragen,

nicht immer unproblematisch,

nicht immer herzlich.

Und doch schafft die Tatsache,

dass man gemeinsame Eltern hat,

ein anderes Gefühl der Verbindlichkeit

und der Zusammengehörigkeit,

als man es anderen gegenüber empfindet.

Im Notfall würde man Geschwistern immer beistehen,

selbst, wenn die Beziehung abgekühlt ist.

Dieses Wissen macht eine Familie aus:

Dass man sich aufeinander verlassen kann,

dass man im besten Fall füreinander da ist,

fair und loyal miteinander umgeht.

Dadurch wird eine Familie zu einem Zufluchtsort,

der Halt und Sicherheit im Leben gibt.


So verhält es sich auch mit der Gemeinde.

Die Gemeinschaft derer, die nach Gottes Willen fragen

und danach zu leben versuchen -

die „Gemeinschaft der Heiligen”,

wie sie im Glaubensbekenntnis heißt -,

ist im Idealfall ein Ort der Zuflucht, wie die Familie.

Nicht umsonst waren und sind Kirchen Stätten des Asyls.

Hier darf ich auf Fairness, Loyalität und Hilfe hoffen -

oder mich sogar darauf verlassen.


Solche Gemeinschaften haben aber die Tendenz,

sich nach außen abzugrenzen und eng zu werden -

eine Enge, die abschreckt nach außen

und einschnürt nach innen.


Jesus nennt jeden Menschen Schwester und Bruder.

Wir aber möchten wissen, mit wem wir es zu tun haben,

ob wir ihr oder ihm trauen können und vor allem:

ob sie so sind wie wir.

Vorher lassen wir keine:n rein,

geschweige denn, dass wir sie

wie Geschwister ansehen und behandeln.


Von außen betrachtet scheint es so,

dass sich da eine Gruppe von anderen abkapselt.

Sich abgrenzt durch eigene Kleidung,

eigene Rituale und eine eigene Sprache,

die Außenstehende nicht mehr verstehen.

So hat man über Jahrhunderte

Menschen jüdischen Glaubens wahrgenommen

und misstrauisch beäugt:

Warum sondern sie sich ab?

Warum sind sie nicht so wie wir?


Dieses Misstrauen gipfelte

in der im Nationalsozialismus vertretenen Auffassung,

es gäbe ein „Judentum” und eine jüdische „Rasse”.

Die Idiotie dieser Auffassung,

die sich wissenschaftlich als „Rassenlehre” gab,

hätte man schon damals erkennen müssen.

Denn Menschen jüdischen Glaubens gab es nicht nur

im Orient und in Europa.

Es gab und gibt afrikanische Jüd:innen und chinesische -

überall auf der Welt, unter allen Völkern,

haben Menschen den jüdischen Glauben angenommen,

obwohl sie nicht in direkter Linie

mit einem der Zwölf Söhne Israels verwandt sind.


Trotzdem sind sie Jüd:innen.

Wie kann das sein?

Hat Gott nicht seinen Bund mit den Kindern Israels geschlossen,

den Nachfahren der zwölf Söhne Jakobs?

Und sind diese Israeliten nicht die,

die mit Mose die Flucht aus Ägypten gewagt hatten

und mit denen er durch die Wüste gewandert war

bis zum Berg Gottes, dem Horeb?

Daran erinnert er sie:


„Da tratet ihr herzu

und standet unten am Berge;

der Berg aber stand in Flammen

bis in den Himmel hinein.

Und der Herr redete mit euch

mitten aus dem Feuer.”


Das fünfte Buch Mose ist,

ebensowenig wie die anderen Bücher Mose,

von Mose selbst geschrieben worden.

Es entstand Jahrhunderte,

wenn nicht ein Jahrtausend nach den Ereignissen,

von denen es erzählt.

Geschrieben wurde es nach der Zerstörung Jerusalems

im babylonischen Exil,

etwa 500 Jahre vor Christi Geburt.

Mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem

begann die Diaspora,

die Zerstreuung der Kinder Israel

in aller Herren Länder.


Man kann es auch andersherum sagen:

Es begann die Zeit der Ausbreitung

des jüdischen Glaubens in alle Länder

und unter alle Völker der Erde.

Griechen wurden Juden und Römer,

Syrer und Araber, Germanen und Slaven.

Zu ihnen allen wird gesagt:


„Da tratet ihr herzu

und standet unten am Berge.”


In der jüdischen Überlieferung heißt es,

die Seelen aller Menschen,

die jemals den jüdischen Glauben annehmen würden,

wären damals mit am Horeb gewesen.


Auch das kann man andersherum sagen:

Alle Menschen, denen diese Worte vorgelesen werden,

sind Ohrenzeugen dieses Geschehens:


„Der Herr redete mit euch

mitten aus dem Feuer.

Den Klang der Worte hörtet ihr,

aber ihr saht keine Gestalt,

nur eine Stimme war da.”


Nur eine Stimme …

Es ist die Stimme von Mutter oder Vater,

von Katechet:in, Pastor:in oder Lektor:in,

die uns diese Geschichte vorliest oder erzählt,

wie sie seit tausenden von Jahren

erzählt und vorgelesen wurde.

Für die, die sie hören,

wird die Stimme zu Gottes Stimme.


Es ist nicht die Begabung oder Kunst

von Katechet:in oder Lektor:in,

die bewirkt, dass uns Gottes Stimme

anspricht aus diesen Worten.

Es ist Gott selbst - sein Heiliger Geist,

der uns zu Ohrenzeug:innen macht

und uns aufnimmt in den Bund mit seinem Volk.


Wir Christ:innen haben dafür das Zeichen der Taufe.

Auch sie ist einer dieser Tage im Leben,

der alles verändert.

Sie ist der Tag im Leben,

weil sie alles zum Guten verändert.

So sehr verändert,

dass alles Schlimme und Böse, das wir erleben,

keine Macht mehr besitzt,

über unser Leben zu bestimmen.

Wie das Leben uns auch zeichnen mag:

Wir, die wir mit der Taufe bezeichnet wurden,

tragen sie wie eine schützende Hülle um uns.


Wir haben auch besondere Tage gemeinsam.

Tage, die uns an den Bund Gottes mit uns erinnern

und an das, was Gott uns damit geschenkt hat:

Den Heiligen Abend,

den Karfreitag

und den Ostertag.


Wie die Menschen jüdischen Glaubens

ergreift auch uns Gottes Geist,

der uns davon überzeugt, dass es wahr ist:

Wir gehören zu Gott

wie Kinder zu einer Familie.

Gottes Geist schenkt uns den Mut und die Kraft,

darauf zu vertrauen:

Gott ist mit uns im Bund und wir mit ihm,

gemeinsam mit den Menschen jüdischen Glaubens.

Mit ihnen stehen wir vor Gott

und hören seinen guten Willen für uns.

Mit ihnen sind wir aufgefordert,

nach diesem Willen auch zu leben.


Gebe Gott uns den Wunsch und die Kraft dazu.

Amen.