Sonntag, 20. August 2023

tapfer sündigen

Predigt am 11. Sonntag n. Trinitatis, 20. August 2023, über Lukas 7,36-50

Liebe Schwestern und Brüder,


„Kann die Liebe Sünde sein?

Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst,

wenn man einmal alles vergisst vor Glück?”


Liebe kann nicht Sünde sein.

Selbst wenn sie es wär, wär’s mir egal;

lieber will ich sündigen mal, als ohne Liebe sein.”


Das könnten gut Worte der Sünderin aus dem Evangelium sein.

Wie Zarah Leander würde sie singen,

ganz unschuldig und ein wenig verrucht -

eine Frau, der man alles zutraut.


Aber hat sie nicht recht?

Liebe ist das Beste, was Menschen einander geben können.

Der Apostel Paulus zählt in 1.Korinther 13,

dem „Hohenlied der Liebe”, auf,

was Liebe alles ist:

langmütig, freundlich, zurückhaltend,

verantwortungsvoll, bescheiden.


Liebe ist, so könnte man ergänzen,

wie ein freundlicher Spiegel,

in dem der Geliebte, die Geliebte sich selbst sehen darf

als schön, besonders und einzigartig,

wie wir es alle sind.


Ohne die Liebe wüssten wir nicht,

dass wir liebenswert sind.

Wir brauchen den liebevollen Blick, der uns sagt:

Du bist schön. Du bist angesehen.

Nur die Liebe teilt neidlos unsere Freude, unser Glück.

Das macht unser Glück erst vollkommen.


Kann diese Liebe Sünde sein?


I

Offenbar.

Denn eine Frau, von der Jesus sagt:

„sie hat viel geliebt”,

wird als Sünderin vorgestellt.

Ihre Sünden bestehen gerade darin,

dass sie viel geliebt hat.

Der Gastgeber, der Jesus eingeladen hat,

spricht es in Gedanken aus:

„Wenn dieser ein Prophet wäre,

wüsste er, wer diese Frau ist

und was für eine sie ist.”


Aha. So eine ist sie also.


Wobei - was soll das eigentlich bedeuten, „so eine”?

Ist es Lukas peinlich zu sagen,

was für eine diese Frau ist?

Oder ist sie gar nicht so eine,

an die wir jetzt gerade denken?

Denken wir überhaupt alle an dasselbe?


Das ist das Fatale, wenn man von „so einer” spricht.

Scheinbar ist klar, was gemeint ist,

aber es wird nicht ausgesprochen.

Und niemand traut sich, nachzufragen -

man möchte ja nicht als Tropf dastehen,

der als einziger nicht begreift, was alle zu wissen scheinen.


„So eine” oder „so einer” wird damit zu einem Stempel,

der einen Menschen abstempelt,

ohne das er oder sie etwas getan haben muss.

Es genügt, dass jemand mit dem Finger auf sie zeigt

und sagt: „Das ist auch so eine!”


Solche Leute, auf die man mit dem Finger zeigt,

gab und gibt es zu allen Zeiten.

Es waren und sind nicht immer dieselben Leute.

Im Laufe der Zeiten ändert sich,

wer zu „solchen Leuten” gezählt wird.

Es waren einmal Juden, es waren Zigeuner.

Es waren Arme wie die vom „Nachtjackenviertel”.

Es sind Menschen mit einem Handicap,

es sind Ausländer:innen …


Ich muss die Liste nicht fortsetzen.

Wir wissen, wer gemeint ist.

Gehörten vielleicht selbst einmal zu „solchen”,

auf die mit dem Finger gezeigt wurde.

Wie die Pfarrerstochter,

die zu DDR-Zeiten in einer Grundschule in Thüringen

vor die Klasse treten musste

und die Lehrerein sagte:

Jetzt lacht sie aus, denn sie glaubt noch an Gott.


Wer nicht so ist wie die anderen -

wer anders aussieht, anders lebt,

anders liebt oder anders glaubt als die Mehrheit -,

kann schnell zu „so einer” oder „so einem” werden.

Eine, von der man instinktiv weiß,

dass man sich mit „so einer” besser nicht abgibt,

mit „so einer” besser nicht gesehen wird,

sonst wird man mit ihr am Ende in einen Topf geworfen.


Und dabei kann man nicht einmal sagen,

was denn so verwerflich an ihr ist.


II

Aber in unserem Text geht es nicht nur um jemand,

die anders liebt als die Mehrheit, nämlich: viel.

Sie ist wegen dieser Liebe auch eine Sünderin.


Was in der Beziehung zu Gott Sünde heißt,

ist in unseren Beziehungen die Verletzung.

Wer jemanden verletzt mit Worten oder Taten,

verletzt oder zerstört die Beziehung zu diesem Menschen.

Wer verletzt wurde,

will mit dem anderen nichts mehr zu tun haben.

Und wem bewusst wird, dass er jemanden verletzte,

traut sich oft nicht, ihr oder ihm unter die Augen zu treten.


In ähnlicher Weise verletzt Sünde die Beziehung zu Gott.

Wem bewusst wird, dass er die Beziehung zu Gott verletzte,

traut sich oft nicht, Gott unter die Augen zu treten

und hat das Gefühl, dass Gott nichts mehr von einem wissen will.


Oft sind die Taten,

durch die man die Beziehung zu Menschen verletzt,

und die Taten,

durch die man die Beziehung zu Gott verletzt,

dieselben.


Wer Fremdlinge bedrückt,

indem er sie spüren lässt,

dass sie nicht willkommen sind,

ihnen die Gastfreundschaft oder das Asyl verweigert

oder sie sogar tätlich angreift,

versündigt sich.


Es gibt aber auch Dinge,

die galten oder gelten als moralisch verwerflich,

sind aber keine Sünde -

z.B. wie man lebt, oder wen man liebt.


Und es gibt Dinge, die sind Sünde,

werden aber von Gruppen der Gesellschaft akzeptiert

oder sogar gut geheißen,

wie der eben erwähnte Hass auf Fremde.


III

Zu welcher Art von Sünde gehört das,

was die Frau getan hat?

Sie wird als Sünderin bezeichnet, aber ist sie es auch?

Ihr Verhalten scheint ihre Schuld zu entlarven:

Sie kniet vor Jesus auf der Erde und wäscht ihm die Füße -

eine Arbeit, die sonst nur Sklaven verrichteten.

Dass sie einen Flakon mit teurem Salböl kaufen kann,

zeigt, dass sie wohlhabend ist,

sie ist keine Sklavin.

Die Frau erniedrigt sich vor Jesus und weint dabei -

so sehr, dass sie mit ihren Tränen

Jesus den Staub von den Füßen waschen kann.

Also muss sie doch wohl sehr viel zu bereuen haben.


Normalerweise wäre sie zu fein, anderen die Füße zu waschen.

Doch die Frau erniedrigt sich,

wie es auch Jesus tat, als er seinen Jüngern die Füße wusch.

„Ein Beispiel habe ich euch gegeben,

damit ihr tut, wie ich euch getan habe”, sagte er dazu.

Er meinte damit nicht die Fußkosmetik

oder eine nette Geste, die nichts kostet.

Sondern dass die Jünger sich nicht zu fein sein sollen,

sich ganz nach unten zu begeben, wie Sklaven.

Und dass sie sich keine Gedanken machen sollen,

wie sie angesehen werden,

wenn sie sich mit „so welchen” abgeben.


Zugleich ist die Art, wie die Frau Jesus die Füße wäscht,

sehr ungewöhnlich und sehr intim:

Sie trocknet seine Füße mit ihren Haaren

und hört nicht auf, sie mit Küssen zu bedecken.

In dieser Art, Jesus die Füße zu waschen,

behauptet sie ihren Eigensinn.

Sie erniedrigt sich vor Jesus

und bleibt dabei doch sie selbst.


Das lässt fragen, ob die Frau tatsächlich ihre Sünden beweint.

Vielleicht beweint sie vielmehr die Tatsache,

dass ihre besondere Art zu leben und zu lieben,

dass ihr Eigensinn und ihr Selbstbewusstsein

sie in den Augen der anderen zu „so einer” gemacht haben.

Wie wir alle, möchte auch diese Frau gesehen werden

und dadurch angesehen sein,

ohne sich dafür anpassen und ihre Eigenart aufgeben zu müssen.


IV

Jesus sieht die Frau an.

Er verteidigt sie gegenüber dem Gastgeber,

der schlecht von ihr denkt.

Ja, Jesus stellt sie, „so eine”, sogar über ihn,

über den moralisch einwandfreien, vorbildlichen Frommen:

„Ihre vielen Sünden sind vergeben,

denn sie hat viel geliebt;

wem aber wenig vergeben wird,

der liebt wenig.”


Dem Gastgeber muss nichts vergeben werden,

weil er sich nichts zu Schulden kommen ließ.

Aber weil er sich nichts zu Schulden kommen ließ,

hat er auch viele Gelegenheiten zur Liebe ausgelassen.

Jesus zählt sie auf:

„Du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben,

du hast mir keinen Kuss gegeben

und mich nicht gesalbt.”


Wer versucht, nach Gottes Willen zu leben,

wird immer wieder enttäuscht feststellen,

dass man dabei Fehler macht.

Wer einen anderen Menschen liebt,

wird ihr oder ihm oft nicht gerecht,

handelt manchmal lieblos.

Wer ein Kind großzieht,

tut ihm manchmal unrecht,

ist manchmal nicht da, wenn es seine Mutter, seinen Vater braucht,

ist manchmal kurz angebunden, genervt,

wenn das Kind Zuwendung sucht oder Verständnis.


Wer versucht, nach Gottes Willen zu leben,

macht die überraschende Erfahrung,

dass man gerade dabei sündigt.

Bei dem Versuch, Gott und die Nächsten zu lieben,

verletzt man die Beziehung zu den Mitmenschen

und die Beziehung zu Gott viel öfter, als man dachte.


Der Gastgeber zieht daraus den Schluss,

dass es besser ist, nichts zu tun.

Denn wer nichts tut,

kann auch nichts falsch machen.


Jesus aber wirbt in dieser Geschichte dafür,

es immer wieder mit der Liebe zu versuchen,

gerade weil man dabei so viel falsch machen,

gerade weil man damit scheitern,

gerade weil man sündigen kann.

Darum sagt er „ihre vielen Sünden sind vergeben,

denn sie hat viel geliebt.”


Bei unserem Versuch, nach Gottes Willen zu leben,

dürfen wir auf Vergebung hoffen

und aus der Vergebung leben.

Wir dürfen Fehler machen,

denn nur so lernen wir, wie Liebe geht.

Martin Luther schrieb seinem Freund Philipp Melanchthon:

pecca fortiter,

sed fortius fide et gaude in Christo,

qui victor est peccati, morti et mundi” -

sündige tapfer,

aber tapferer sei dein Glaube und deine Freude an Christus,

der Sünde, Tod und Welt überwunden hat.


Etwas freier kann man es so ausdrücken:

Leben bedeutet, Fehler zu machen.

Darum habe keine Angst vor Fehlern.

Es kommt nicht darauf an, dass du ein fehlerfreier Mensch bist.

Worauf es ankommt, ist deine Tapferkeit:

Dein Mut, auf diese Zusage Christi hin zu leben:

„Deine Sünden sind dir vergeben.”

Darauf zu vertrauen, dass Gott dir deine Fehler vergibt,

damit du ihn und deine Nächste:n lieben kannst.


V

Kann die Liebe Sünde sein?


Die Frage ist falsch gestellt.

Sie muss lauten:

Kann ich mir eingestehen,

dass ich ein sündiger Mensch bin,

weil ich immer wieder in meinen Beziehungen

zu Gott und zu meinen Mitmenschen scheitere.

Und finde ich den Mut, mir vergeben zu lassen

und es immer wieder noch einmal zu versuchen mit der Liebe.


Für Jesus jedenfalls ist die Frage nicht,

ob Liebe Sünde sein kann,

sondern ob man liebt.