Mittwoch, 22. November 2023

Brandmauer

Ansprache am Buss- und Bettag, 22.11.2023, über Ezechiel 22,23-31:

Das Wort Gottes kam zu mir:

Menschenkind, sag dem Land:

Du bist ein Land, das nicht für rein erklärt,

nicht vom Regen abgewaschen wurde am Tag des Zorns.


Die FÜHRER DER NATION in seiner Mitte

glichen einem brüllenden Löwen, der seine Beute reißt.

Sie fraßen Menschen,

nahmen Schätze und Kostbarkeiten,

vermehrten die Witwen im Lande.


Seine PRIESTER taten meiner Weisung Gewalt an

und entweihten, was mir heilig war.

Zwischen heilig und profan unterschieden sie nicht

und stellten nicht fest, was rein war und was unrein.

Vor meinen Sabbaten verschlossen sie die Augen.

So wurde ich mitten unter ihnen entweiht.


Die FÜRSTEN im Land waren reißende Wölfe,

die Blut vergossen, Menschenleben vernichteten,

damit sie ihren Profit machen konnten.


Und seine PROPHETEN übertünchten alles für sie.

Die Seher sahen Trug,

und die Wahrsager logen für sie.

Sie sagten: So spricht Gott, der Herr,

aber Gott hatte nicht gesprochen.


Die GRUNDBESITZER erpressten und raubten

und bedrückten die Elenden und Armen,

und den Fremden erpressten sie gegen jedes Recht.


So suchte ich unter ihnen jemanden,

der eine Mauer ziehen

und in die Bresche springen würde vor mir für das Land,

damit es nicht vernichtet würde,

aber ich fand niemanden.


Da goss ich meine Wut über sie aus,

mit dem Feuer meines Zorns vernichtete ich sie.

Ihren Lebenswandel ließ ich auf ihr Haupt kommen,

Spruch Gottes, des Herrn.



Liebe Schwestern und Brüder,


ein Donnerwetter ergeht da durch den Propheten Ezechiel.

Man zieht unwillkürlich den Kopf ein,

auch wenn wir gar nicht gemeint sind.

Und doch erkennen wir in seiner bildreichen Sprache

menschliche Grundzüge wieder,

die es auch heute noch gibt.


Der große Prozess in Italien diese Woche

gegen Mitglieder der kalabrischen Mafia hat gezeigt,

wie allgegenwärtig Raub und Erpressung unter uns sind.

In Putins Angriffskrieg gegen Ukraine,

beim Überfall der Hamas auf Israel

gehen Mächtige über Leichen,

und man weiß nicht einmal, wofür.


Ezechiel hält seine Strafpredigt dem kläglichen Rest,

der von Israels Gläubigen übrig geblieben ist

nach der Zerstörung Jerusalems

und der ins babylonische Exil verschleppt wurde.

Jeremia, der Prophet vor ihm,

hatte vor dem kommenden Unheil gewarnt,

zur Umkehr, zur Besinnung gerufen - vergebens.

Ezechiel findet Jeremias Mahnungen bestätigt

in dem Schicksal, das die Bewohner Israels ereilt hat.


Er stellt einen Zusammenhang her

zwischen dem heillosen Handeln derer,

die es eigentlich besser hätten wissen müssen,

und dem Unheil, das dann über sie hereingebrochen war.

Nicht den Zusammenhang von böser Tat und Strafe,

an den wir als erstes denken würden.

Sondern dass heilloses Handeln Unheil heraufbeschwören muss.


Menschen, die immer wieder gedemütigt,

ihrer Rechte beraubt, benachteiligt und übervorteilt werden,

erheben sich eines Tages und nehmen sich mit Gewalt,

was ihnen bisher verwehrt wurde.

Kurzsichtiges Macht- und Gewinnstreben

geht über die Rechte und Bedürfnisse von Menschen hinweg,

geht buchstäblich über Leichen.

Doch solche Taten rächen sich.

Aus ihnen kann nichts Gutes, nichts Bleibendes folgen.


So warnen heute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,

Schülerinnen und Schüler

vor dem menschengemachten Klimawandel.

Vielleicht wird eines Tages,

wenn die Wellen der Meere weite Landstriche überflutet haben,

wenn Ackerboden von Regenmassen weggeschwemmt

oder von Gluthitze ausgedörrt ist,

ein Mensch wie Ezechiel aufstehen

und denen, die übrig geblieben sind,

den Zusammenhang aufweisen:

wie heilloses Handeln Unheil heraufbeschwört.


Aber der klägliche Rest der Gläubigen,

der zum Gottesdienst gekommen ist,

um Ezechiels Strafpredigt anzuhören,

hat es eigentlich nicht verdient, so angegangen zu werden.

Sie sind gekommen, um Gottes Wort zu hören.

Sie sind diejenigen, die nach Gottes Willen fragen

und sich an seine Gebote halten.

Ihnen muss man den Zusammenhang

zwischen ungerechtem Handeln und Unheil nicht erklären.

Sie werden auch nicht zu denen gehören, die Ezechiel aufzählt.

Die Führer der Nation, die Priester, Fürsten,

falschen Propheten und Grundbesitzer

werden sicher nicht zu Ezechiel in den Gottesdienst kommen.

Überhaupt wird die Zahl derer,

die damals über die Katastrophe des Exils

und ihre Folgen nachdenken wollten,

überschaubar gewesen sein, so wie heute.


Wenn Ezechiel die unheilvollen Taten aufzählt,

die für ihn zur Zerstörung Jerusalems führten,

kann er sich der Zustimmung seiner Zuhörer sicher sein.

Denn um Unrecht zu erkennen und zu benennen,

muss man sich erst einen Maßstab zu eigen machen.

Dieser Maßstab tritt in der Aufzählung Ezechiels deutlich hervor:

Respekt vor dem Leben,

das Gott allen Menschen geschenkt hat;

Respekt vor Gott und seinem Willen;

ein fairer Handel, der andere nicht übervorteilt

und ihnen nicht die Lebensgrundlage nimmt;

Liebe zur Wahrheit,

die man nicht verschweigt oder zu jemandes Gunsten verbiegt;

Rücksicht auf Schwache,

Hilfe für Notleidende und Bedürftige.

Seine Zuhörerinnen und Zuhörer teilen diesen Maßstab.

Ich sehe sie vor mir, wie sie bei jedem der Punkte

in der Aufzählung des Ezechiel zustimmend nicken.


Auch ihnen gilt ein Absatz in der Predigt Ezechiels:

„Ich suchte unter ihnen jemanden,

der eine Mauer ziehen

und in die Bresche vor mir springen würde für das Land.”

Gott, so sagt Ezechiel, Gott sucht jemanden,

der oder die Brandmauern errichtet

gegen Lüge, Fremdenhass, Menschenverachtung.

Jemanden, der oder die Grenzen zieht

und mahnt, wenn sie überschritten werden.


Im 6. Kapitel des Jesajabuches,

dessen erster Teil lange vor Ezechiel

und auch lange vor Jeremia geschrieben wurde,

hört Jesaja Gott fragen:

„Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?”

Die Frage Gottes können nur die hören,

die sich Gottes Maßstab zu eigen gemacht haben.

Die nicht mehr blind sind gegen das Unrecht,

gegen Not und Elend in der Welt.

Die nicht an „alternative Fakten” glauben,

die man so hindreht, wie es einem passt,

sondern an die Wahrheit dessen, der gesagt hat:

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben;

niemand kommt zum Vater denn durch mich.”


Diese Frage ergeht heute auch an uns.

Das ist der Sinn des Busstages:

nicht Selbstzerknirschung oder gar Scham.

Sondern sich der Frage zu stellen,

ob man Gottes Ruf folgen will und folgen kann,

Mauern zu ziehen und in die Bresche zu springen.


Es ist eine Frage, die dem Busstag angemessen ist.

Man kann sie nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Was mit Menschen geschieht,

die Grenzen ziehen und Nein! sagen,

die auf der Wahrheit beharren und sie verteidigen,

die sich an die Seite der Schwachen stellen,

das wissen wir nur zu gut.

Darum zwingt Gott niemanden,

für seine Sache einzutreten.


Wer aber bereit ist, dieses Wagnis auf sich zu nehmen

um des Landes, um der Zukunft, um der Menschen -

um Gottes willen,

der oder dem gilt die Verheißung,

die im letzten Teil des Jesajabuches steht.

Ein Teil, der am Ende des Exils geschrieben wurde.

Als die Möglichkeit einer Rückkehr nach Israel

am Horizont auftauchte und zur Wirklichkeit wurde;

die Möglichkeit zu Wiederaufbau und Neuanfang.

Lange nach Ezechiel wurden diese Verse geschrieben,

und doch mit seiner Botschaft im Hinterkopf:


Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst

und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,

sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt

und den Elenden sättigst,

dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,

und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.

Und der Herr wird dich immerdar führen

und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken.

Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten

und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden,

was lange wüst gelegen hat,

und du wirst wieder aufrichten,

was vorzeiten gegründet ward;

und du sollst heißen:

»Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert,

dass man da wohnen könne«. (Jes 58,9b-12)