Sonntag, 12. November 2023

vanitas

Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 12.11.2023, über Römer 8,18-25

Ich meine, dass die Leiden unserer Zeit nicht ins Gewicht fallen

angesichts der kommenden Herrlichkeit, die an uns offenbart wird.

Die sehnsüchtige Erwartung der Schöpfung ist ja darauf gerichtet,

dass die Kinder Gottes offenbart werden.

Denn die Schöpfung wurde der Nichtigkeit unterworfen -

nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat -

auf die Hoffnung hin, dass auch diese Schöpfung befreit wird

von der Knechtschaft der Vergänglichkeit

zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.

Wir wissen doch, dass die ganze Schöpfung bis jetzt

insgesamt seufzt und miteinander leidet.

Nicht nur sie, sondern auch wir,

die wir den Vorschuss des Geistes erhalten haben,

auch wir seufzen und erwarten die Kindschaft,

die Erlösung unseres Körpers.

Wir wurden ja durch Hoffnung gerettet.

Aber eine Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung.

Denn wer hofft auf das, was man bereits sieht?

Wenn wir aber erhoffen, was wir nicht sehen, warten wir geduldig.



Liebe Schwestern und Brüder,


wie viel Zeit verbringt man mit Warten:

auf den Bus;

auf den Anschluss;

in Arztpraxen;

auf dem Behandlungsstuhl beim Zahnarzt;

auf ein Päckchen oder ein Paket;

auf einen Handwerker;

auf einen Anruf, einen Besuch.


Es ist tote Zeit.

Man kann nichts machen,

man muss da sein,

um bloß nicht zu verpassen,

worauf man so lange wartet.


Diesem untätigen Warten steht bei Paulus die Hoffnung gegenüber.

Die Hoffnung, Schwester des Glaubens,

insofern der Glaube eine lebendige Erwartung ist.

Eine Schwester auch der Liebe,

die den Geliebten, die Geliebte ersehnt.


Die Hoffnung, Schwester von Glaube und Liebe

ist kein diffuses Gefühl, das noch was kommen muss -

womöglich etwas besseres als das, was man gerade erlebt.

Sie ist keine vage Vermutung, kein Vielleicht.


Die Hoffnung, von der Paulus spricht,

weiß, dass da noch etwas kommt.

Weiß es ganz sicher.

In ihrem Wissen ist sie unbeirrbar.

Weil es kommen muss.

Es geht nicht anders, es kann nicht anders sein.

Sonst behielte die Vergänglichkeit die Oberhand,

und dann wäre alles umsonst:

der Glaube, die Liebe und die Hoffnung.


Aber ist Vergänglichkeit nicht unser Schicksal?

Alles vergeht, wir müssen alle einmal sterben.

Hat es Sinn, sich etwas anderes zu wünschen?

Und ist Glaube nicht genau dazu da,

uns angesichts der Vergänglichkeit hoffen zu lassen,

dass dermaleinst, am Ende der Zeiten,

alle Tränen abgewischt werden

und der Tod nicht mehr sein wird?


Wenn man Glaube und Hoffnung so verstehen will,

dass Erlösung von der Vergänglichkeit

erst nach unserem Tod stattfindet,

dann wäre unsere Zeit auf Erden bloß ein Übergang.

Etwas, das man erleiden, ertragen muss,

bis man endlich, endlich unter einem neuen Himmel

auf einer neuen Erde zum ewigen Leben erwacht.


Dann wäre aber genau genommen

dieses unser Leben gar kein Leben,

sondern nur ein Wartesaal,

in dem wir unsere Zeit absitzen,

bis wir endlich aufgerufen werden.


Vergänglichkeit meint aber nicht bloß die Tatsache,

dass wir alle einmal sterben müssen.

Vergänglichkeit - oder Nichtigkeit,

vanitas im Lateinischen -,

beschreibt auch eine Eigenschaft.

„Vanitas vanitatum”, heißt es im Buch des Predigers,

Luther übersetzt es so: „es ist alles ganz eitel”.


Von diesem Eitlen, Nichtigen erzählen auch die Märchen:

Die Königin fragt ihren Spiegel:

„Wer ist die Schönste im ganzen Land?”,

und der König fragt seine Töchter:

„Wie lieb habt ihr mich?”

und verstößt seine jüngste, als sie ihm sagt,

sie habe ihn so lieb wie das Salz.


„Hans im Glück” ist ein Gegentyp zu diesen beiden,

einer, der nicht dem Eitlen und Nichtigen verfällt.

Er lässt sich bei jedem Tausch benachteiligen,

weil ihm der sogenannte Wert der Sache gleichgültig ist.

Als ihm am Ende sogar der wertlosen Schleifstein

in den Brunnen fällt, wähnt er sich am glücklichsten,

weil er nichts mehr besitzt.


Nicht nur Königinnen und Könige im Märchen

hängen dem Eitlen, dem Nichtigen an.

Auch uns ist es nicht fremd.

Man kann geradezu sagen:

Die Welt, wie wir sie uns geschaffen haben,

ist auf Nichtigkeiten aufgebaut.


Unser Wirtschaften z.B. ist darauf angewiesen,

dass die Dinge, die wir besitzen, schnell kaputt gehen,

damit wir uns bald wieder etwas Neues kaufen.

Wir produzieren unglaublich viel Müll

und verteilen ihn über unseren Planeten.

Inzwischen landet dieser Müll

in Form von kleinsten Partikelchen wieder in unserem Essen:

Der Kreislauf hat sich geschlossen.


Die Nichtigkeit bestimmt auch unser Verhältnis zur Welt:

Wir müllen sie nicht nur zu,

wir behandeln sie auch wie den letzten Dreck.

Wenn die Welt ein Gegenstand wäre,

dann nicht das wertvolle Meißner Porzellan,

das man mit Samthandschuhen anfasst.

Sie wäre der Plastebecher, den man aus dem Autofenster wirft.


Man spricht von „Re-Naturierung”,

weil es längst keine Natur mehr gibt,

bis auf ein paar lächerlich kleine Fleckchen.

Aber selbst da soll die Natur

sich nach unseren Vorstellungen richten.

Sobald ein Luchs, ein Wolf oder ein Bär

aus seinem Reservat ausbricht, wird er zum Problem

und zum Abschuss freigegeben.

Wundert es da, dass die ganze Schöpfung bis jetzt

insgesamt seufzt und miteinander leidet?


Aber nicht nur sie, sondern auch wir leiden.

Denn wie wir mit unserer Umwelt,

mit Pflanzen und Tieren umgehen,

so gehen wir auch miteinander um:

Menschen dienen als „Schutzschilde”,

gelten als „Kollateralschäden”.

Wir ertragen es, dass Menschen wie Müll leben müssen,

dass sie von unserem Müll leben müssen.

Und wir möchten die, die nicht so sind wie wir,

gern in Reservate sperren,

wo sie bitteschön bleiben sollen,

denn sonst werden sie für uns zum Problem.


Die Schöpfung leidet unter der Vergänglichkeit,

sie leidet unter uns und wartet darauf,

dass endlich, endlich die Kinder Gottes offenbart werden.


Kinder Gottes - das sind wir doch schon!

Mit unserer Taufe sind wir es geworden.

Seitdem dürfen wir Gott „Vater” nennen, „Vater unser”,

und unsere Mutter.


Wenn Kinder von ihren Eltern mit Liebe erzogen wurden,

wenn sie Geborgenheit und Anerkennung erfuhren,

wenn auf sie und ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen wurde,

dann darf man erwarten, dass sie als Erwachsene einmal

ebenso handeln werden.

Gott liebt uns, seine Kinder, über alle Maßen.

Gott vergibt uns und hat Geduld mit uns.

Gott hat uns diese Welt, seine Schöpfung, überlassen,

damit wir sie als Lebensraum für alle Lebewesen erhalten.


Können wir das vor unserem geistigen Auge sehen?

Können wir uns vorstellen, dass jedes Lebewesen

seinen Platz auf unserer Welt einnehmen darf?

Können wir uns vorstellen, dass jeder Mensch

leben und glücklich sein darf?


Und können wir uns vorstellen,

dass Menschen, um leben und glücklich sein zu können,

ihr schlechtes Leben hinter sich lassen, wenn sie es können,

um anderswo ein neues Leben zu beginnen?

Würden wir nicht auch so handeln?

Denn, so heißt es in einem anderen Märchen:

„Etwas besseres als den Tod finden wir überall.”


Und wenn wir uns das vorstellen können,

wünschen wir auch, dass es Wirklichkeit wird?

Möchten wir Wölfen, Luchsen und Problembären

ihren Platz in unserer Umwelt lassen,

wenn das bedeutet, dass wir auf sie Rücksicht nehmen müssen?

Möchten wir, dass Fremde neben uns wohnen,

wenn das bedeutet, dass sie uns befremden?


Wenn wir uns das wünschen können,

haben wir Hoffnung.

Eine Hoffnung, die sich nicht nur auf das Jenseits richtet.

Sondern die jetzt schon die Welt verändert,

weil das Seufzen der Kreatur uns zum Handeln drängt.


So ist die Hoffnung Schwester des Glaubens,

weil der Glaube es nicht hinnimmt,

dass es nun einmal so ist, wie es ist.

Er fragt nach Gottes Willen,

er ist bereit zu Buße und Umkehr

und bittet Gott um seine Hilfe.


Und so ist die Hoffnung auch Schwester der Liebe,

die sich nach dem sehnt, was sie liebt,

dem Geliebten, der Geliebten entgegeneilt

und ihr oder ihm das Beste wünscht und das Beste gönnt.


Hoffnung verändert die Welt,

wenn sie nicht unverbindlich und diffus bleibt,

sondern sich klar vor Augen stellt,

was Gott sich von uns für seine Schöpfung wünscht.

Wenn wir das sehen können

und wenn wir zu wünschen vermögen,

was Gott sich von uns wünscht,

dann werden wir sichtbar als Gottes Kinder.


Das wird der bedrängten Schöpfung

und das wird unseren Mitmenschen Hoffnung schenken:

Sie müssen nicht bis ans Ende der Zeiten warten.

Es wird sich etwas ändern. Schon heute.