Sonntag, 5. November 2023

Du bist ein Könner!

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis, 5.11.2023, über 1.Johannes 2,12-14

Ich schreibe euch, liebe Kinder:

euch sind die Sünden vergeben,

weil ihr seinen Namen tragt.

Ich schreibe euch Eltern:

ihr kennt den, der im Anfang war.

Ich schreibe euch Jugendlichen:

ihr habt den Bösen besiegt.


Ich schrieb euch, liebe Kinder:

ihr kennt den Vater.

Ich schrieb euch Eltern:

ihr kennt den, der im Anfang war.

Ich schrieb euch Jugendlichen:

ihr seid Könner,

das Wort Gottes ist unter euch gegenwärtig;

ihr habt den Bösen besiegt.



Liebe Schwestern und Brüder,


„was man schwarz auf weiß besitzt,

kann man getrost nach Hause tragen”


(Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil)


Worte allein genügen nicht immer.

Manchmal braucht man es schriftlich.

Wenn’s um Geld geht, zum Beispiel.

Früher reichte ein Handschlag,

um einen Kauf, eine Abmachung zu besiegeln.

Damit gibt sich heute niemand mehr zufrieden.

Wenigstens eine Quittung muss es schon sein.

Und es scheint, je größer und teurer etwas ist,

desto mehr Papiere und Unterschriften werden benötigt.


In Liebesdingen sind wir nicht so papierversessen.

Klar, man freut sich über ein schriftliches Liebesgeständnis.

Und natürlich hebt man Liebesbriefe auf,

mit Schleife drumrum, in einem besonderen Kästchen.

Aber als Beweis der Liebe genügen

ein Blick, drei Worte und ein Kuss.


Auch der Glaube kommt ohne Geschriebenes aus -

sieht man einmal von der Bibel ab.

Mit ihrer Hilfe vergewissern wir uns über unseren Glauben.

So haben wir es von Martin Luther gelernt.

Vieles geht nicht ohne Bibel:

Der Konfirmandenunterricht,

das Gespräch über den Glauben

und natürlich die Predigt.


Aber glauben kann man auch ohne Bibel.

Bis zu Luthers Übersetzung der Bibel

mussten die meisten Menschen ohne sie auskommen.

Damals konnte sich niemand eine Bibel leisten.

Die wenigsten konnten sie lesen.

Und was daraus im Gottesdienst vorgelesen wurde,

verstand man nicht. Es war Latein -

für die meisten ein Kauderwelsch, bis heute.


Auch wir haben geglaubt,

bevor wir das, was uns in Christenlehre,

Konfirmandenunterricht und Predigten erzählt wurde,

selbst nachlesen und nachprüfen konnten.

Am Anfang unseres Glaubens standen

nicht so sehr Worte oder Geschichten.

Vielmehr war es das Erleben von Gemeinschaft,

das Erlebnis eines guten und gleichberechtigten Miteinanders.

Das Erleben von Offenheit:

man durfte sein, wer man war,

und man durfte sagen, was man dachte.

Am Anfang stand Erlebnis einer gemeinsamen Feier, einer Andacht.

Das Licht von Kerzen;

das bewegt Werden von Liedern und Musik;

das Teilen von Brot und Wein.

Solche Erfahrungen standen am Anfang des Glaubens.

Die Worte kamen später dazu,

klärten und erklärten, was es bedeutete,

was man da erlebt hatte.


So ist es auch mit den Sätzen aus dem 1.Johannesbrief,

die den heutigen Predigttext bilden.

Auch sie erinnern an Erlebtes.

Sie belehren oder predigen nicht,

wie man das von den Briefen das Paulus kennt.

Sie schärfen ein, was schon da ist:

Ihr kennt den, der im Anfang war, Jesus Christus,

und ihr kennt den Vater.


Dieses Kennen ist besonders.

Kein Wissen über Glaubensdinge,

nichts, was man im Unterricht gelernt hätte.

Sondern eine Erfahrung:

Die Erfahrung, von Gott angenommen,

von Gott erkannt und geliebt zu sein.


Dieses Erfahrungswissen,

dass Gott mich annimmt und liebt, weckt ungeahnte Kräfte.

Es macht sogar fähig, den Bösen zu besiegen.

Christinnen und Christen wissen nicht nur von Gott;

durch ihn sind und vermögen sie auch etwas:

Sie sind Kenner und Könner.

Gottes Wort wird gehört, gelesen, gewusst.

Dieses Wissen wird zu einer Haltung, verändert das Handeln,

wenn man es annimmt und für sich gelten lässt.

Dadurch verändert sich die Einstellung zum Mitmenschen:

Wer vom Wort Gottes bewegt ist,

liebt seine Nächste, seinen Nächsten wie sich selbst.


Das Erfahrungswissen: Ich gehöre zu Gott

macht fähig, den Bösen zu besiegen.

Der Böse, darunter versteht der 1.Johannesbrief den Teufel.

Aber nicht als gehörnte Gestalt,

wie er uns im Kasperletheater oder an Halloween begegnet.

„Den Bösen” im Singular,

den Teufel, der Menschen verführt

und sich dann ihre Seelen schnappt,

den gibt es nicht.

Und zugleich gibt es ihn als Möglichkeit,

die auch in unserer Reichweite liegt.


Gut und Böse sind Möglichkeiten, die wir ergreifen,

Entscheidungen, die wir treffen.

Der Böse kommt nicht mit Feuer und Schwefel,

Hörnern und Bocksbeinen daher.

Er oder Sie kommt daher als jemand wie Sie und ich,

jemand, der Grenzen infrage stellt und verschiebt.


Wie im Paradies die Schlange zu Eva sagte:

„Sollte Gott gesagt haben, ihr sollt nicht essen

von allen Bäumen im Garten?”,

so sagt der Böse vielleicht:

„Sollen wir uns unseren Wohlstand

von Asylschmarotzern wegnehmen lassen?”

Mit Worten werden Grenzen verschoben,

Tabus hinterfragt und schließlich gebrochen.

Und auf einmal ist es nicht mehr unvorstellbar,

gegen Jüdinnen und Juden zu hetzen.


Der Böse appelliert an unsere niederen Instinkte:

An den Neid auf das Wohlergehen der anderen.

An die Angst vor dem Fremden und Andersartigen.

An die Habgier, die nicht genug bekommen kann

und gleichzeitig anderen nichts gönnt.

An den Geiz, der nach Schnäppchen Ausschau hält,

aber nicht den Preis bezahlen will,

der für ein nachhaltiges Wirtschaften nötig ist

und auch nicht mit anderen teilen will.

Der Böse appelliert an Vorurteile und Ressentiments,

die die Welt in Schwarz und Weiß einteilen

und die Menschen in Freund und Feind.


Und der Böse vertauscht Gut und Böse miteinander.

Menschen, die sich um andere sorgen,

sich für Schwächere einsetzen,

werden als „Gutmenschen” verunglimpft.

Dagegen wird erklärt: „Geiz ist geil!”

Und wer sich rücksichtslos nimmt, was er will;

wer Schwächere zur Seite oder ins Abseits drängt;

wem jedes Mittel recht ist, sein Ziel zu erreichen,

wird als „Macher” bewundert, als „durchsetzungsstark”,

und als Vorbild hingestellt.


Schon früh müssen wir uns entscheiden,

auf welcher Seite wir stehen wollen:

Auf der Seite derer, die Mitschüler:innen mobben,

Schwächere drangsalieren,

über Kinder, die anders sind, lästern.

Oder auf der Seite derer, die Partei ergreifen,

die widersprechen und notfalls auch widerstehen,

die Schwächeren beistehen

und sich mit Außenseitern befreunden.


Wenn man Kind ist, erscheint alles noch als Spiel.

Aber es werden schon Verhaltensmuster eingeübt.

es wird Erfahrungswissen gesammelt:

Wie kriege ich, was ich will?

Wie setze ich mich durch?

Wie verschaffe ich mir Macht?

Aber auch:

Wem kann ich trauen und wem nicht?

Auf wen kann ich mich verlassen,

vor wem muss ich mich hüten,

wem gehe ich besser aus dem Weg?


Darum lobt der 1.Johannesbrief die Jugendlichen:

Sie haben den Bösen besiegt,

das heißt, sie haben den Bösen in sich besiegt:

Sie haben sich gegen die Möglichkeiten entschieden,

die ihnen auch offen gestanden hätten:

Die Möglichkeit zu Gemeinheit und Gier,

zu Hass und Rücksichtslosigkeit.

Statt dessen entschieden sie sich für Gott, den Vater,

den sie schon als Kind kennen gelernt hatten,

und für den Weg Jesu.


Sie entschieden sich dafür,

weil ihnen die Liebe Gottes begegnete.

Durch diese Begegnung verloren sie die Angst:

Die Angst, zu kurz zu kommen;

die Angst vor dem Unbekannten, dem Fremden;

die Angst, nicht zu genügen

und die Angst, nicht dazuzugehören.


Die Liebe Gottes haben sie erlebt,

wie man das Licht einer Kerze erlebt.

Man erlebt, wie sich dieses kleine Licht

gegen die Dunkelheit behauptet;

wie es einfach nicht kleinzukriegen ist.

Wie selbst ein schwach glimmender Docht

wieder aufflackert und hell leuchtet

in einer lebendigen, strahlenden Flamme.

Dieses Licht hat sie angezogen.

Dieses Licht hat sie erfüllt

und erfüllt sie noch heute, wieder und wieder.


Solche Jugendlichen sind auch wir,

oder waren es einmal.

Auch wir haben Gott kennen gelernt

durch Worte und Taten:

Durch die freundliche Geste,

die uns auf den freien Platz einlud;

durch das Lächeln,

mit dem wir in der Gemeinde empfangen wurden;

durch die Bereitschaft zu Nachsicht,

Rücksichtnahme und Vergebung.

Durch Wohlwollen, das nicht aufgesetzt war,

sondern von Herzen kam.


So haben wir Gottes Liebe kennen gelernt.

So geben wir Gottes Liebe weiter.

Wir haben erkannt: Wir zünden damit ein Licht an,

das der Dunkelheit standhält

und das Menschen als Wegweiser dienen kann,

die den Weg nicht mehr wissen.


Auf diesem Gebiet der Liebe sind wir Könner.

Wir haben nur vergessen, dass wir Könner sind,

und wie viel wir können.

Wir vergessen manchmal die Hoffnung,

die in uns so hell gebrannt hat.

Wir vergessen manchmal, dass wir Gott kennen

und dass Gott uns kennt und uns erkannt hat;

dass Gott uns annimmt und vergibt -

sogar das, was wir uns selbst nicht vergeben können.


Wir sind Könner.

Das vergessen wir so leicht,

man muss uns wieder und wieder daran erinnern.

Darum gibt es diesen 1.Johannesbrief

mit diesen besonderen Zeilen,

die uns daran erinnern,

dass wir Kinder waren und Gottes Kinder sind;

dass wir als Jugendliche von einer neuen Welt träumten

und immer noch träumen,

und dass wir als Erwachsene wissen,

was Gut ist und was Gott von uns erwartet, nämlich:

Gottes Wort halten und Liebe üben

und uns nicht selbst für Gott halten.


Der 1.Johannesbrief schärft es uns ein:

Du bist eine Könnerin, du bist ein Könner!

Du verbreitest Licht in der Dunkelheit der Welt.

Du machst Menschen Hoffnung.

Du lässt sie Gottes Liebe spüren,

weil du die Liebe kennst

und an die Liebe glaubst

und aus der Liebe lebst.


Amen.