Ansprache zu Epiphanias, 6.1.2024, über 1.Könige 10,1-15
Liebe Schwestern und Brüder,
zu den Dingen, die besonders schwer fallen,
bei denen man sich sehr überwinden muss,
gehört es, zuzugeben, dass der andere recht hat.
Oder dass jemand klüger ist, etwas besser kann als man selbst.
Wenn man es als Mutter oder Vater dem Kind,
als Lehrerin einer Schülerin gegenüber eingestehen muss,
ist es einigermaßen erträglich.
Denn da ist man die Überlegene,
man lässt sich sozusagen dazu herab,
dem Kind das Rechthaben, die Klugheit,
das besondere Vermögen zuzugestehen.
Und ist sogar stolz darauf, dass das Kind so begabt ist.
Wenn man jemandem gegenüber zugeben muss,
dass er im Recht ist, der gleichaltrig oder gleichrangig ist -
wenn es sogar jemand ist, den oder die man nicht leiden kann -,
dann ist das eine sehr bittere Pille, die man schlucken muss.
Wenn man es überhaupt über die Lippen bringt:
Ja, du hast recht. Ja, du kannst es besser als ich.
Andererseits: Wie gut fühlt es sich an, recht zu bekommen!
Wie süß ist der Triumph, wenn man es einmal besser weiß,
besser kann als die Eltern, die Lehrerin oder die Chefin -
und wenn sie das auch noch zugeben müssen!
Am schönsten ist es wohl für die, die immer Zweite waren,
immer zurückstehen mussten.
Wenn der, der beim Auswählen der Mannschaften
immer als letzter übrig blieb, das entscheidende Tor schießt.
Wenn die, der man es nicht zutraute, die Lösung findet.
Beim Besuch der Königin von Saba
treffen zwei Gleichrangige aufeinander.
Und fast scheint es, als hätte Salomo es gar nicht nötig,
in all seiner Pracht und Weisheit,
dass ihm die Königin von Saba bescheinigt,
wie weise und wie reich er ist.
Salomo, ein Sohn Davids, hat im 10. Jahrhundert v.Chr. gelebt.
Aufgeschrieben wurde diese Geschichte 500 Jahre später,
im babylonischen Exil.
Da gab es den Staat Juda nicht mehr.
Der Tempel und der Palast
mit ihren Schnitzarbeiten aus Sandelholz,
mit ihren Zithern und Harfen
waren zerstört und verbrannt.
Die Geschichte vom Besuch der Königin von Saba
beschwört nicht nur vergangenen Glanz und Glorie.
Sie erinnert die staatenlosen, gedemütigten
und in alle Lande zerstreuten Kinder Israels daran,
wer sie sind: Prinzen und Königinnen -
nicht der Abstammung nach,
schon gar nicht in den Augen ihrer Zeitgenossen.
Denen sind sie ein Dorn im Auge.
Sie machen die Kinder Israels für alles verantwortlich,
was schief läuft oder wofür sich kein Schuldiger findet.
Sie machen sie zu Sündenböcken - bis heute.
Aber in Gottes Augen sind sie Prinzessinnen und Könige.
Daran erinnert diese Geschichte.
Noch einmal 500 Jahre später
wird eine ähnliche Geschichte erzählt.
Über einen jungen Mann,
der in einem unbedeutenden Nest in der Nähe der Hauptstadt
in ärmlichsten Verhältnissen zur Welt kommt.
Der in Galiläa aufwächst und von dort auszieht,
um Menschen zu fischen
und ihnen die gute Nachricht zu verkündigen,
dass mit ihm das Reich Gottes nahe sei.
Doch wie kann der Christus aus Galiläa kommen,
fragen die Leute.
Aus Galiläa steht kein Prophet auf,
behaupten die Schriftkundigen (Joh 7,41.52).
Doch gerade zu ihm kommen,
als er als Neugeborener in einer Krippe liegt,
drei weise Könige mit Gold, Weihrauch und Spezerei,
um zu bezeugen, dass er der ist, der da kommen soll.
Dass dieses Kind ein Prinz und ein König ist,
ja mehr als das: der Sohn Gottes.
In seinem Roman „Gottes Werk und Teufels Beitrag”
beschreibt John Irving ein ganz besonderes Waisenhaus.
Sein Leiter, Dr. Wilbur Larch, hat die Angewohnheit,
noch einmal in den Schlafsaal zu schauen,
wenn das Licht schon ausgeschaltet ist,
und den Kindern gute Nacht zu wünschen:
„Gute Nacht - ihr Prinzen von Maine,
ihr Könige Neuenglands!”
Die da in ihren Betten liegen,
träumen vielleicht von Prinzessinen oder Prinzen,
die sie aus den Märchen kennen.
Aber sie kämen nie auf den Gedanken,
sich selbst so anzusehen.
Was sie für sich erhoffen,
ist, Eltern zu finden, die sie adoptieren.
Es müssen keine reichen, keine berühmen Eltern sein.
Hauptsache, es sind liebevolle Eltern.
Warum redet Dr. Larch diese Kinder
als Prinzen und Könige an?
Um ihnen ihren Wert zu vermitteln,
den sie als Menschen haben, nicht nur in seinen Augen.
Gerade ihnen, die nicht mit einem silbernen Löffel im Mund,
sondern mit einem Handicap ins Leben gestartet sind,
will er Selbstvertrauen schenken:
Ihr seid etwas Besonderes, obwohl -
oder vielleicht gerade weil ihr einen schweren Start hattet.
In diesen Worten des Doktors
schwingt der Amerikanische Traum mit,
der einmal nicht nur der Traum war,
das große Geld zu machen
und vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen.
Von denen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland
für eine Verfassung demonstrierten
und dafür mit Kerkerhaft bestraft wurden wie Fritz Reuter,
wanderten viele nach Nordamerika aus.
Sie hofften nicht auf das große Geld,
sondern auf Freiheit.
Für viele Menschen, die aufgrund ihrer Religion,
ihrer Meinung, ihrer Lebensweise verfolgt wurden,
waren und sind die USA das gelobte Land,
das ihnen ein Leben in Freiheit verspricht.
Die Kinder Israels hatten mit der Zerstörung des Tempels
und der Deportation ihr gelobtes Land verloren.
Im Exil entdeckten sie, dass sie das Land nicht brauchten,
um frei zu sein.
Mitten im Exil, mitten in Unterdrückung und Verfolgung
fanden sie die Freiheit in der Heiligen Schrift.
Sie versicherte ihnen, dass sie Prinzen und Königinnen waren,
und mehr als das:
„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig,
der Herr, euer Gott (Lev 19,2).”
Die Königin von Saba preist Gott,
weil der Salomo zum König eingesetzt hat,
damit er Recht und Gerechtigkeit übt.
Recht und Gerechtigkeit betreffen nicht nur
die Gleichheit vor dem Gesetz
und die materielle Fairness: dass jede:r genug zum Leben hat.
Zu Recht und Gerechtigkeit gehört auch,
dass die eigene Leistung anerkannt wird.
Dass man gesehen wird als die oder der, der man ist -
und nicht verachtet, klein oder zum Sündenbock gemacht
oder gemobbt wird.
Die Geschichte vom Besuch der Königin von Saba
und das Evangelium von den Weisen aus dem Morgenland
stellen Salomo und Jesus ins Licht,
sodass man sieht, wer sie in Wirklichkeit sind.
Im Licht dieser Geschichten
werden auch wir ins rechte Licht gerückt:
Wir sind Kinder Gottes.
Und als Kinder Gottes sind wir Prinzen und Königinnen -
nicht unserer Abstammung nach,
aber durch unseren Wert und unsere Würde.
Der Glaube verleiht uns diese Würde.
Eine Würde, die nicht arrogant oder hochnäsig daherkommt,
sondern uns und alle Menschen ins rechte Licht rückt:
In das Licht der Liebe Gottes,
der uns so liebt, wie wir sind.
Der sich mit uns über unsere großen und kleinen Erfolge freut,
auch wenn sie anderen nicht der Rede wert erscheinen mögen.
Der stolz auf uns ist - so stolz,
wie man als Vater und Mutter nur sein kann.
Im Licht des Glaubens zeigt sich, wer wir wirklich sind:
Gottes Töchter und Söhne,
wunderbare, einzigartige, über alles geliebte Menschen.
Weil Gott uns so ansieht, können wir selbst
unser Potenzial, unsere Fähigkeiten entdecken.
Vielleicht ist es nicht unser Schicksal,
Prinzessin oder König zu werden -
davon braucht es heutzutage immer weniger.
Aber es ist unsere Würde, Prinz und Königin zu sein -
eine Würde, die uns niemand nehmen kann.