Sonntag, 10. März 2024

Das Leben bewahren

Predigt am Sonntag Lätare, 10. März 2024, über Lukas 22,54-62:

Die Tempelwache nahm Jesus fest, führte ihn ab

und brachte ihn in das Haus des Hohenpriesters.

Petrus aber folgte ihnen mit einigem Abstand.

Als sie mitten auf dem Hof ein Feuer anzündeten

und sich zusammensetzten, setzte Petrus sich unter sie.

Da sah ihn eine Magd im Licht des Feuers sitzen,

musterte ihn und sagte: Und der da war auch bei ihm.

Er aber leugnete: Frau, ich kenne ihn gar nicht!

Kurz darauf sah ihn ein anderer und sagte:

Du gehörst auch zu denen!

Petrus aber sagte: Mann, ich doch nicht!

Und als etwa eine Stunde vergangen war,

behauptete ein anderer steif und fest:

Wahrhaftig, auch der da war bei ihm,

und er ist ja auch ein Galiläer!

Da sprach Petrus: Mann, keine Ahnung, was du meinst.

Und sofort, während er noch redete, krähte der Hahn.

Da wandte sich der Herr um und sah Petrus an.

Und Petrus dachte an das Wort des Herrn,

wie er zu ihm sagte: Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen.

Und er ging hinaus und weinte bitterlich.



Liebe Schwestern und Brüder,


„da wandte sich der Herr um und sah Petrus an.”


Petrus sieht Jesus in diesem Moment zum letzten Mal.

Sie tauschen einen letzten Blick, bei dem beide wissen,

dass sie einander so nicht wieder ansehen werden.

Der Freund sieht den Freund an,

der versprach, mit ihm ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

Der Meister sieht den Schüler an,

den er aus dem Wasser zog,

als er seinem Glauben plötzlich nicht mehr traute.

Der Sohn Gottes sieht Petrus an, den Fels,

auf dem er seine Kirche gründen wollte

und dem er die Schlüssel des Himmelreiches gab.


Was für ein Blick wird das gewesen sein?

Bekannt ist diese Geschichte als „Verleugnung des Petrus”.

Wie sieht man jemanden an, der einen verleugnet,

der einen nicht kennen will, wenn es darauf ankommt,

sich zu ihm zu bekennen?


Wer sieht Petrus in diesem Moment an,

da sich ihre Blicke ein letztes Mal treffen?

Ist es der Sohn Gottes, dem gegenüber Petrus bekennt:

„Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch!”?

Ist es der Meister, der seinem Schüler prophezeit,

dass er ihn noch am selben Tag verraten würde?

Oder ist es der Freund, der von seinem Freund Abschied nimmt?


Es war sehr mutig von Petrus, Jesus so weit zu folgen.

Und sehr leichtsinnig.

Petrus folgte einer bewaffneten Schar, die Jesus verhaftet hatte.

Er setzte sich sogar mitten unter sie.

Dabei wusste er, dass man ihn als einen seiner Jünger erkennen

und dass seine galiläische Herkunft ihn verraten musste.


Immer wieder gibt es Menschen,

die aus ihrer Überzeugung heraus

mutig und leichtsinnig zugleich handeln.


Alexei Navalny kehrte nach Russland zurück,

obwohl dort ein Giftgasanschlag auf ihn verübt worden war.

Er wurde deswegen in Deutschland behandelt,

er hätte hier bleiben können.

Es war vorhersehbar, dass er verhaftet werden würde,

sobald er wieder russischen Boden betrat.

Er musste damit rechnen,

dass man erneut versuchen würde, ihn zu ermorden.

Dass es tatsächlich geschah: Dass Alexei Navalny

unter ungeklärten Umständen in der Haft ums Leben kam,

hat - so schrecklich es war - niemanden überrascht.


Der Theologe und Mitverschwörer des 20. Juli,

Dietrich Bonhoeffer, reiste noch im Jahr 1942

in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden.

Er hätte dort bleiben können, in Sicherheit.

Statt dessen kehrte er nach Deutschland zurück,

wo er verhaftet, in Berlin-Tegel inhaftiert

und in den letzten Wochen des Krieges

im KZ Flossenbürg ermordet wurde.


Sie - und viele andere - riskierten ihr Leben, um Zeugen zu sein.

Zeugen für uns, die Nachgeborenen.

Sie bezeugen die Gewalt,

unter der sie gelebt und gelitten haben

und der sie schließlich erlegen sind.

Sie bezeugen aber auch, welche Angst die Gewalthaber

vor der Wahrheit haben, vor der Weigerung und dem Widerspruch.

Vor allem bezeugen sie eine Wahrheit, einen Glauben,

für den sie bereit sind, ihr Leben zu riskieren,

weil die Wahrheit, der Glaube größer sind als sie.


Man nannte solche Leute früher Märtyrer.

Das griechische Wort Mártyr oder Mártys heißt „Zeuge”.

Im Zuge der Christenverfolgungen wurde das Wort „Zeuge”

zu einem Titel: Ein Märtyrer, das war ein „Blutzeuge”,

der sich von Löwen im Zirkus zerfleischen ließ,

um seinem Glauben an Gott treu zu bleiben.

Für seinen Glauben stand er notfalls mit seinem Leben ein.

Über den Gräbern dieser Märtyrer wurden Kirchen errichtet;

ihre sterblichen Überreste als Reliquien verehrt

und sie selbst zu Heiligen erklärt,

die nach ihrem Tod bei Gott für die Gläubigen eintraten

und deren Leben ihnen ein Beispiel geben sollte.


Dietrich Bonhoeffer ist für uns Protestanten

zu einer Art Heiligem geworden -

auch wenn wir natürlich keine Heiligenverehrung mehr betreiben.

Wir haben ihn nicht vergessen,

während die Namen anderer Theologen seiner Zeit

nur noch Fachleuten geläufig sind.

Er ist für uns bis heute ein Beispiel für Standhaftigkeit

und den Mut, „dem Rad in die Speichen zu fallen”;

wir singen sein Lied „Von guten Mächten” mit derselben Inbrunst,

mit der er es im Gefängnis niederschrieb.


Auch Alexei Navalny wird man noch kennen,

wenn der Name Vladimir Putins längst vergessen ist.

Sein leichtsinniger Mut, nach Russland zurückzukehren,

inspiriert viele, weiterhin Widerstand zu leisten:

„Er hatte keine Angst, darum haben wir auch keine”, sagen sie.


Auch Petrus kennt sozusagen jedes Kind,

obwohl er nicht in diese Reihe passt.

Denn er wurde in dieser Geschichte nicht zum Märtyrer.

Petrus bleibt nicht an der Seite Jesu,

wie er es versprochen hat.

Er riskiert fast alles, um ihm zu folgen,

doch vor dem letzten Schritt scheut er zurück:

mit ihm zusammen zu sterben.


Das nimmt man ihm übel.

Seine Verleugnung war keine Ruhmestat -

wie Petrus überhaupt eher jemand ist,

für den man sich fremdschämen muss.

Doch es gibt auch eine andere Möglichkeit,

Petrus’ Handeln zu sehen und zu verstehen.

Betrachtet man sein Handeln aus einem anderen Blickwinkel,

wird aus der Prophezeiung Jesu:

„Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen”,

quasi ein Befehl.


Die Perspektive, die ich einnehmen möchte,

beschreibt Bertolt Brecht in einer seiner

„Geschichten vom Herrn Keuner”:


„Als Herr K., der Denkende,

sich in einem Saal vor vielen gegen die Gewalt aussprach,

merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen

und weggingen. Er blickte sich um

und sah hinter sich stehen - die Gewalt.

„Was sagtest du?” fragte ihn die Gewalt.

„Ich sprach mich für die Gewalt aus”, antwortete Herr Keuner.

Als Herr Keuner weggegangen war,

fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat.

Herr Keuner antwortete:

„Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen.

Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.”


Von den Märtyrern, die ihr Leben für ihren Glauben,

für die Wahrheit opferten, spricht man bis heute.

Man kennt ihre Namen, während die Namen derer,

die überlebten, weil sie nicht so standhaft waren, vergessen sind.

Aber wären alle Märtyrer gewesen,

wer hätte den Glauben weitergegeben?

Wer hätte die Kinder getauft und gelehrt,

wer hätte Gottesdienst gefeiert?


Wir bewundern den Mut der Märtyrer

und schämen uns heimlich dafür,

dass wir wahrscheinlich nicht so handeln würden wie sie,

weil wir, wie Petrus, den letzten Schritt nicht gehen wollen.

Doch dieser letzte Schritt ist uns nicht bestimmt.

Jesus ist ihn gegangen, damit wir ihn nicht gehen müssen.

Wir müssen nicht wie Jesus sein -

wir können nicht wie Jesus sein.

Unsere Aufgabe ist es nicht,

unseren Glauben mit dem Opfer unseres Lebens zu bezeugen.


Hinter dem Entschluss eines Dietrich Bonhoeffer

oder eines Alexei Navalny,

sein Leben aufs Spiel zu setzen,

steckt auch ein wenig die Überzeugung,

dass es ohne ihn nicht gehen würde,

dass es allein auf ihn ankäme.

Es steckt die - sehr männliche - Vorstellung vom Helden dahinter,

die erstrebenswerter und ruhmreicher erscheint

als die weibliche Carearbeit,

die das Leben behütet und sorgt, dass es weitergeht.


So sehr die Märtyrer für ihren Glauben

bewundert und verehrt wurden,

ist eine solche Haltung eigentlich kein Zeichen von Glauben.

Der Glaube verlässt sich auf Gott

und vertraut darauf, dass Gott handeln wird.

Das entbindet uns nicht, selbst tätig zu werden.

Aber unser Tun ist nicht entscheidend,

mit uns steht und fällt der Glaube nicht.


Auch aus der Antwort,

die Bertolt Brecht Herrn Keuner in den Mund legt,

spricht die Überzeugung, unentbehrlich zu sein:

„Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen.

Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.”

Trotzdem muss man fragen,

ob der Sache nicht besser gedient ist,

wenn der am Leben bleibt, der sie vertritt,

als wenn er dafür sein Leben opfert.

Ob es nicht auch eine Verpflichtung denen gegenüber gibt,

von denen man geliebt wird und die einen brauchen:

Dietrich Bonhoeffer war verlobt;

Alexei Navalny hatte eine Ehefrau und eine Mutter.

Und ob die Sorge um das Leben und seine Weitergabe

nicht mindestens ebenso wichtig und ehrenhaft ist

wie der Kampf um die gute und gerechte Sache.


Darum kann man die Prophezeiung Jesu:

„Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen”

auch als die Aufforderung verstehen, sein Leben zu retten.

Petrus wird als Zeuge noch gebraucht:

Nach den Frauen am Grab

ist er der erste Zeuge der Auferstehung.

Petrus muss sein Leben retten,

um Zeuge des Lebens zu sein.


Ein letztes Mal sieht Jesus Petrus an.

In seinem Blick liegt kein Tadel, keine Trauer, kein Zorn.

Auch kein Triumph, dass er recht behalten hat.

Jesus sieht Petrus an, wie ein Freund den Freund ansieht:

voller Liebe und Zuneigung.


Petrus weint vielleicht, weil er sich schämt.

Aber vor allem weint er, weil ihm bewusst wird,

dass er Jesus auf diesem Weg nicht mehr folgen kann,

weil er ihm nicht bestimmt ist

und weil sein Tod sinnlos wäre.

Er weint, weil er seinen Freund verliert

und noch nicht weiß, dass er ihn wiedersehen wird.


Heute, am Sonntag Lätare,

sehen wir hinter dem Tod am Kreuz,

auf den wir in diesen Wochen zugehen,

das neue Leben aufblitzen, das auch uns verheißen ist.

Als Christinnen und Christen stehen wir auf der Seite des Lebens,

nicht auf der des Todes.

Wir sind verantwortlich, es zu behüten und zu bewahren -

alles Leben auf dieser Erde,

das Leben unserer Mitmenschen

und auch unser eigenes.