Sonntag, 17. März 2024

keine Opfer mehr

Predigt am Sonntag Judika, 17. März 2024, über Gen 22,1-14:


TRIGGERWARNUNG:


Die Geschichte von der Opferung Isaaks ist eine Missbrauchsgeschichte.

Wer Erfahrungen von Missbrauch oder sexueller Gewalt machen musste,

sollte diese Predigt nicht lesen:

Sie könnte traumatische Erinnerungen wachrufen.



Gott stellte Abraham auf die Probe. Er rief ihn: Abraham!

Der antwortete: Ja?

Gott sagte: Nimm mit dir deinen einzigen Sohn, den du lieb hast,

Isaak, und reise unverzüglich in das Land Moria.

Dort sollst du ein Brandopfer auf einem bestimmten Berg darbringen,

den ich dir nennen werde.

Abraham stand früh am Morgen auf, sattelte seinen Esel

und holte seine beiden Knechte und seinen Sohn Isaak.

Er spaltete Holz zum Brandopfer, brach auf

und reiste zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Als Abraham am dritten Tag Ausschau hielt

und den Ort in der Ferne sah,

sprach er zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel.

Ich und der Junge wollen dort hin gehen, Gott verehren

und dann zu euch zurückkehren.

Abraham nahm das Holz zum Brandopfer

und legte es auf Isaak, seinen Sohn.

Er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer,

und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater: Du, Papa!

Und er sagte: Ja, mein Sohn?

Isaak sagte: Da sind Feuer und Holz,

aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?

Abraham sprach:

Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.

Und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Schließlich kamen sie zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Dort baute Abraham den Altar und schichtete Holz darauf.

Dann fesselte er Isaak, seinen Sohn,

und legte ihn auf das Holz auf dem Altar.

Abraham erhob seine Hand gegen seinen Sohn:

Er zog das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.

Da rief ihn der Bote des Herrn vom Himmel herab:

Abraham, Abraham!

Und er sprach: Ja?

Der Bote sprach:

Erhebe deine Hand nicht gegen den Jungen und tu ihm nichts!

Denn jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.

Da blickte Abraham auf, und sieh da: ein zweiter Widder

hatte sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen.

Da ging Abraham und fing den Widder

und opferte ihn zum Brandopfer anstelle seines Sohnes.

Und Abraham nannte diesen Ort: „Der Herr sieht”,

daher wird er bis heute „der Herr sieht” genannt.


I

Liebe Schwestern und Brüder,


bevor wir darüber nachdenken können,

was diese Geschichte bedeuten könnte und sagen will,

muss uns zunächst die Ungeheuerlichkeit bewusst werden,

die hier erzählt wird:


Ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten.


Seinen Sohn, den er angeblich lieb hat und der ihm vertraut;

der ohne Argwohn mit ihm geht,

obwohl er spürt, dass etwas nicht stimmt.

Und dem dann, als sein Vater ihn fesselt, schlagartig bewusst wird:

Dieser Mann ist ganz anders als der Vater, den er kannte und liebte,

dem er vertraute und von dem er dachte, er liebe ihn auch.

Diesem Mann ist er jetzt schutzlos ausgeliefert.


Wir müssen uns diese Ungeheuerlichkeit zumuten,

damit wir nicht über das, was Abraham seinem Sohn antut,

hinwegsehen, weil es ja nur ein Test war;

weil Isaak nicht wirklich getötet werden sollte

und weil es der Geschichte nicht um die Tötung eines Menschen,

sondern um den Glauben geht.


Denn dieses darüber Hinwegsehen,

das Übersehen des Opfers und seines Leides

und die Verharmlosung des Täters und seiner Tat:

Das ist ein Mechanismus, mit dem immer schon

Verbrechen zugunsten eines größeren Gutes verharmlost wurden,

auch und gerade in der Kirche.

Ein Mechanismus, durch den auch die Täter,

die Kinder, Jugendliche oder von ihnen Abhängige

sexuell missbrauchten oder ihnen Gewalt antaten,

viel zu lange davongekommen sind.


Diese Geschichte wird uns am Sonntag Judika zugemutet.

Iudica me, schaffe mir Recht,

ist der Ruf eines, der zum Opfer geworden ist.

Heute wollen wir uns zumuten,

die Opfer und ihre Leiden wahrzunehmen.

Auch der Tod Jesu am Kreuz:

der Tod eines Friedfertigen und Unschuldigen,

den die Wut seiner Mitmenschen ans Kreuz schlug,

ist eine Ungeheuerlichkeit und eine Zumutung.


Der Unterschied zur Opferung Isaaks besteht darin,

dass Jesus diese Gewalt nicht von seinem Vater erlebte,

den er liebte und dem er vertraute,

sondern von seinen Mitmenschen.

Er wurde nicht gezwungen, den Weg ans Kreuz zu gehen,

sondern opfert sich aus freien Stücken

und in vollem Bewusstsein dessen, was ihn erwartete.


II

Die Zumutung der Geschichte von der Opferung Isaaks

ist eine dreifache:


Die erste Zumutung ist die Tat selbst:

dass ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten -

und es beinahe getan hätte,

wäre ihm der Engel nicht in den Arm gefallen -,

und dass er diese Tat vorsätzlich und hinterhältig plant und begeht.


Abraham handelt vorsätzlich,

weil die Reise zu dem Berg, wo das Opfer stattfinden soll,

drei Tage lang dauert.

Drei lange Tage hat Abraham Zeit,

sich seine geplante Tat und ihre Folgen durch den Kopf gehen zu lassen -

und bleibt trotzdem dabei.


Abraham handelt hinterhältig,

weil er heimlich in aller Frühe mit seinen beiden Knechten

und seinem Sohn aufbricht, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen.

Am allerwenigsten Sara, seiner Frau, der Mutter seines Sohnes.

Weil er die beiden Knechte außer Sicht- und Hörweite zurücklässt,

damit sie nicht Zeugen seines Verbrechens werden können.

Und weil er seinem Sohn,

als er ihn nach dem offensichtlichen Fehlen des Opfertiers fragt,

eine ausweichende Antwort gibt.


Nun könnte man einwenden,

dass man unsere heutigen Maßstäbe nicht

an diese uralte Geschichte anlegen kann.

In der Bronzezeit dachte man anders über Gewalt,

über die Macht eines Vaters und über ein Menschenleben als heute.

Aber die Bibel lässt an keiner Stelle erkennen,

dass sie die Tötung eines Menschen als Kavaliersdelikt betrachtet.

Und Abrahams Heimlichtuerei deutet darauf hin,

dass ihm selbst das Unrechte seiner Tat bewusst war.


Die zweite Zumutung ist der Missbrauch des Vertrauens.


Wir denken bei dem Wort Missbrauch

an sexuellen Missbrauch und an die Missbrauchsfälle,

die in der Kirche bekannt geworden sind.

In einer Institution, die vom Vertrauen ihrer Mitglieder lebt

und eine Kultur des Vertrauens, der Nähe und der Offenheit pflegt,

wiegt ein solcher Vertrauensmissbrauch besonders schwer.


Die Taten konnten ja nur begangen werden,

weil die Opfer ihren Peinigern vertraut hatten.

Nur so hatten die sich ihren Opfern überhaupt nähern können.

Darum ist es so wichtig,

dass wir in der Kirche aufmerksam sind und bleiben:

Unsere Gemeinden, Gruppen und Einrichtungen

bieten ein ideales Umfeld für Täter,

die das Vertrauen von Menschen missbrauchen wollen.


Abraham missbraucht das Vertrauen seines Sohnes.

Ich frage mich, wie es nach der glücklichen Rettung Isaaks

mit Vater und Sohn weitergegangen ist:

Ob sie auf dem Rückweg ebenso einträchtig nebeneinander hergingen

wie auf dem Hinweg,

oder ob Isaaks Vertrauen in seinen Vater

nicht grundlegend erschüttert wurde.


Die dritte Zumutung ist das Abstreiten der Verantwortung.


Abraham, so scheint die Geschichte zu sagen,

war ja eigentlich gar nicht der Täter.

Er handelte nur auf Geheiß, in gutem Glauben.

Eigentlich ist Gott schuld; er hatte von Abraham verlangt,

seinen Sohn für ihn zu töten.


Hat er das?


„Gott stellte Abraham auf die Probe.”

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung.

Die Probe besteht darin, dass Abraham mit Isaak

zu einem bestimmten Berg reisen

und dort ein Opfer darbringen soll.

Keine Rede davon, dass Isaak geopfert werden soll.


Nun könnte man sagen: Das versteht sich doch von selbst.

Das ist doch die Probe, worin sollte sie sonst bestehen?

Dafür spricht, dass Abraham nach der Tat gelobt wird:

„Jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.”

Und dass anschließend ein Opfertier bereit gestellt wird,

von dem es im hebräischen Text heißt, es sei ein „zweiter Widder”,

sodass man folgern muss, Isaak wäre der erste gewesen.


Aber muss man nicht erwarten,

dass ein so ungewöhnlicher und außerordentlicher Befehl wie der,

seinen eigenen Sohn zu töten, auch ausgesprochen wird?

Isaak ist Saras und Abrahams Wunschkind,

das sie im hohen Alter durch ein Wunder noch bekamen.

Aus ihm soll einmal das Volk Gottes entstehen.

Wenn dieser so wichtige Mensch geopfert werden soll,

müsste das doch ausdrücklich gesagt werden.


Könnte es sich nicht auch um ein Missverständnis

oder um Fanatismus von Seiten Abrahams handeln?

Schließlich haben sich Kreuzritter und Djihadisten,

Terroristen und Attentäter zu allen Zeiten auf Gott berufen,

der ihnen angeblich ihre schrecklichen Taten befohlen hätte.

Und zu allen Zeiten gab und gibt es Gläubige,

die meinen, Gott verlange Opfer von ihnen.

Darum saßen einige der ersten Christen jahrelang auf Säulen

oder zogen sich in die völlige Einsamkeit der Wüste zurück.

Darum wurden Frauen, Männer und Kinder zu Märtyrern.

Darum fügten Gläubige sich Schmerzen zu,

indem sie sich geißelten, sich kratzige Unterwäsche anzogen

oder sich Steine in die Schuhe legten.


Die Antwort auf die Frage,

ob es tatsächlich Gottes Wille war,

dass Abraham seinen Sohn tötet -

bzw. ihn glauben ließ, er würde es tun -,

oder ob das Abrahams eigener Entschluss war,

lässt sich nicht eindeutig beantworten.

Allerdings war es, Befehl hin oder her, Abrahams Entscheidung,

seinen Sohn zu opfern.


Gab Gott überhaupt den Befehl?

Wir können es nicht wissen,

wie wir auch nicht genau wissen können, was Gottes Wille ist.

Oder, besser gesagt: Gottes Wille ist nicht eindeutig.

Es gibt einen Spielraum der Auslegung,

und ich glaube fast, das ist von Gott so gewollt.

Ich glaube, dieser Spielraum: Das ist die Probe,

auf die Gott Abraham stellt.


Wenn man annehmen würde,

Gott hätte Abraham eindeutig befohlen, seinen Sohn zu opfern,

würde die Probe darin bestehen,

dass Gott wissen will, wen Abraham lieber hat:

Gott, oder seinen Sohn Isaak.

Abgesehen davon, wie absurd und kindisch diese Probe wäre:

Gott selbst hatte Sara und Abraham dieses Kind geschenkt.

Gott selbst hatte ein Interesse daran,

dass die Geschichte des Glaubens,

die er mit Abraham begonnen hatte,

weitergeht über viele Generationen, bis zu uns heute.

Mit dem Tod Isaaks wäre sie geendet, ehe sie begonnen hätte.


In unserem Text heißt es nur,

dass Abraham Gott seinen Sohn Isaak nicht vorenthalten sollte.

Ich verstehe das so: Gott wollte ihn kennen lernen.

Denn mit ihm sollte die Geschichte ja weitergehen.

Darum musste der Tag kommen,

an dem Isaak mit Gott in Beziehung tritt.

In der Bronzezeit geschah das durch ein Opfer.

Von Noahs Opfer nach der Sintflut heißt es ganz sinnlich:

„Gott roch den lieblichen Geruch.”


„Du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten.”

Um dieses Lob von Gott zu bekommen,

hätte Abraham seinen Sohn nicht fesseln

und in Todesangst versetzen müssen.

Es hätte gereicht, wenn er mit ihm zusammen

ein Opfer dargebracht hätte.

Ein Opfertier, das zeigt die Geschichte,

hätte sich dafür gefunden.


III

Hat Abraham also den Test nicht bestanden?

Als Gott den „lieblichen Geruch” von Noahs Opfer riecht,

schwört er sich:

„Ich will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen;

denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens

ist böse von Jugend auf.”

Abraham, der Stammvater des Glaubens

für Juden, Christen und Muslime, war auch nur ein Mensch.

Er ging davon aus, dass Gott das Opfer seines Sohnes von ihm verlangte.

Dass aber Abraham so dachte heißt nicht,

dass Gott dieses Opfer gefordert hätte.


Vielleicht darf man das Opfer,

das Jesus mit seinem Kreuzestod gebracht hat,

auch so verstehen: Er wollte damit Opfer überflüssig machen.

Jesus wollte, dass wir aufhören, andere zu Opfern zu machen

und uns selbst aufzuopfern,

indem er sich für uns opferte:

Ein Opfer, das wir nicht überbieten können.

Er ließ sich aus Liebe zu uns ans Kreuz schlagen,

um uns zu zeigen, dass Gott keine Opfer von uns verlangt,

sondern uns so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab,

damit wir alle durch den Glauben an ihn erlöst werden.


Erlöst von unseren düsteren Phantasien über einen Gott,

der Menschen zu Opfern macht.

Erlöst von Erfahrungen der Gewalt, des Missbrauchs, der Demütigung.

Erlöst dazu, neue und andere Erfahrungen mit Gott

und mit unseren Mitmenschen zu machen.