Samstag, 30. März 2024

Hier gibt es Nichts zu sehen

Predigt in der Osternacht, 30. März 2024, über Johannes 5,19-21:

Im Johannesevangelium spricht Jesus:


Ich sage euch wirklich und wahrhaftig,

der Sohn kann nichts von sich aus tun,

sondern nur, was er den Vater tun sieht.

Denn was jener tut,

das tut der Sohn genauso.

Der Vater liebt nämlich den Sohn

und zeigt ihm alles, was er tut,

und er wird ihm noch größere Werke zeigen,

da werdet ihr staunen!

Wie nämlich der Vater die Toten auferweckt

und lebendig macht,

genauso macht der Sohn lebendig, wen er will.


Liebe Schwestern und Brüder,


Ostern gibt uns etwas zu sehen.

In dreifacher Weise gibt es uns etwas zu sehen.

Dieses Sehen beginnt in der Osternacht,

es beginnt in der Dunkelheit, wo man nichts sieht.

In dieser Dunkelheit erstrahlt ein Licht.

Zuerst war es nur ein Punkt,

der sich bewegte und dem wir folgten wie einem Stern:

Die Flamme der Osterkerze.

Das Licht breitete sich aus. Nun erhellt es den Dom.

Das Licht, das uns umgibt,

nimmt den strahlenden Glanz des Ostermorgens vorweg.

Was gibt uns dieses österliche Licht zu sehen?


I

Zuerst ist es das Licht selbst, das wir sehen.

Das Licht, das die Dunkelheit vertreibt.

Das Licht, das in der Finsternis scheint,

und die Finsternis hat’s nicht ergriffen:

Jesus Christus, das Licht der Welt.

Dieses Licht war am Karfreitag verloschen.

Es hatte sich unseren Händen anvertraut.


Hände, die so behutsam sein können,

so liebevoll, so zärtlich.

Hände, die heilen, die trösten und helfen.

Hände, die Instrumenten Töne und Melodien entlocken,

die etwas gestalten und erschaffen.

Hände des Vaters, der Mutter, die ein Kind bergen und halten.

Hände des Liebsten, der Liebsten,

die von seiner, ihrer Liebe zu uns sprechen.

Hände der Ärztin, des Arztes, denen man sein Leben anvertraut.


Diese wunderbaren Hände können auch zerstören.

Sie schlagen zu, sie schwingen einen Stock, eine Geißel.

Sie winden Dornenzweige zu einer Krone.

Sie zimmern ein Kreuz.

Sie nageln das Licht der Welt ans Kreuz

und lassen es verlöschen.


Das Licht der Welt kann nicht verlöschen.

Denn dann wären wir der Dunkelheit ausgeliefert,

unserer eigenen inneren Dunkelheit,

die zerstört, statt etwas zu schaffen;

die schlägt, statt zu heilen;

die Waffen führt, statt die Hand zu reichen.

Diese Dunkelheit gibt es um uns herum.

Nicht weit von uns, in der Ukraine und in Gaza.

Sie gibt es auch in nächster Nähe;

wir spüren sie manchmal in uns selbst.


Gott lässt nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht.

Gott hält die Flamme lebendig, die wir auslöschen.

Das Licht der Welt leuchtet wieder.

Es setzt die Liebe ins Recht, die Sanftmut,

die Barmherzigkeit, den Frieden.

Das Schöpferische behält die Oberhand über die Zerstörung.

Im österlichen Licht erkennen wir,

dass das Leben stärker ist als der Tod,

dass die Schöpfung sich gegen ihre Zerstörung behauptet:

„Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?”


II

Das andere, was das österliche Licht uns sehen lässt ist,

was Gott, der Vater, tut.

„Denn was jener tut, das tut der Sohn genauso.”

In seinem Sohn Jesus Christus offenbart sich Gott,

weil Gott selbst in ihm redet und handelt.


Offenbarung ist mehr als Sehen.

Sehen können wir nur durch das Licht;

in der Dunkelheit gehen zuerst die Farben verloren

und dann alle Formen und Umrisse.

Die Offenbarung aber ist das Licht selbst.

Ein Licht, das uns überwältigt,

wie man geblendet wird,

wenn man aus dem Dunkel plötzlich ins Licht tritt.


Überwältigung: Das ist die Art und Weise,

in der Gott uns begegnet.

Als Jesus seine Jünger beruft, genügen drei Worte:

Folge mir nach!, und sie lassen alles stehen und liegen,

lassen ihr bisheriges Leben hinter sich,

lassen sich auf die Zukunft ein,

die der Ruf Jesu für sie bereit hält,

weil sie überwältigt wurden.


Sie wurden überwältigt, aber nicht gezwungen.

Die Entscheidung, dem unwiderstehlichen Ruf zu folgen,

lag bei ihnen.

Sie entschieden sich für die Nachfolge,

weil sie erkannt hatten,

dass ihnen nichts besseres passieren konnte

als dieser Ruf, der eine Berufung war.

Eine Berufung in die Gegenwart Gottes,

wie sie Mose zuteil wurde, Samuel und den Propheten.


Die Offenbarung überwältigt,

indem sie in Gottes Gegenwart ruft.

Sie hat nichts mitzuteilen,

es gibt kein geheimes Wissen, keine neue Erkenntnis.

Sie versetzt in Gottes Gegenwart,

und damit ist alles klar: Die vollkommene Klarheit,

die alles Wissen und alle Erkenntnis übersteigt:

„Der Vater wird dem Sohn noch größere Werke zeigen,

da werdet ihr staunen!”


III

Schließlich das Dritte,

was uns das österliche Licht zu sehen gibt:

Das, was die Jüngerinnen Jesu am Ostermorgen vorfinden.

Das leere Grab.

Mit anderen Worten: Es gibt Nichts zu sehen.


Dieses Nichts ist nicht die Vernichtung,

die Auslöschung des Lichtes durch die Finsternis,

die Auslöschung des Lebens durch den Tod.

Dieses Nichts ist der schöpferische Anfang,

aus dem neues Leben entsteht:


In der Stille erklingt ein Ton, eine Melodie.

Auf der leeren Fläche des Papiers entsteht ein Text, ein Bild.

Durch farbiges Glas fällt Licht,

und dieses Licht wird plastisch, fast mit Händen zu greifen.

Alls das sind Metaphern für die Schöpfung aus dem Nichts,

mit der wir das, was am Ostermorgen geschieht,

die Auferstehung, beschreiben - und doch nicht begreifen.


So unbeschreiblich, unbegreiflich die Auferstehung ist,

sie überwältigt uns.

Durch sie geraten wir in Gottes Gegenwart:

„Wie nämlich der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht,

genauso macht der Sohn lebendig, wen er will.”

Gottes Liebe, die am Ostermorgen die Oberhand behält

über die Dunkelheit, ergreift, überwältigt und verwandelt uns:

Sie macht uns lebendig.


Das österliche Licht fällt auf unsere Gesichter

und lässt sie durchscheinend werden

für Gottes Liebe und Gottes Freundlichkeit.

Durch die Auferstehung werden wir selbst

eine Stille, in der sich eine Melodie entfaltet;

eine leere Fläche, auf der ein Gedicht entsteht oder ein Gemälde;

ein Glas, durchsichtig auf den hin,

den Christus am Werk sieht in der Schöpfung und an den Menschen

und der uns in Christus anschaulich geworden ist.


IV

Der Vater wird dem Sohn noch größere Werke zeigen,

da werden wir staunen!

Die Auferstehung ist das Ziel, auf das wir zugehen,

die Hoffnung, die einmal Wirklichkeit werden wird.

Und sie ist der Anfang. Der Anfang von allem.


Gottes schöpferische Macht überwältigt uns.

Wir finden die Kraft, aufzustehen, jeden Morgen neu.

Wir entdecken schöpferische Energien in uns.

Wir erkennen unsere Schönheit,

erkennen, dass wir diese Stille sind, diese leere Fläche,

dieses Glas, durch das Christus anschaulich wird.


Wie durch einen Spiegel wird Christus durch uns anschaulich.

Er wird anderen anschaulich, und er wird uns anschaulich:

Wir sehen ihn im jeweils anderen.

So ist der Auferstandene unter uns gegenwärtig,

indem er anderen durch uns

und uns in anderen begegnet.