Sonntag, 28. April 2024

ja, wenn das alle täten …

Predigt am Sonntag Kantate, 28.4.2024, über EG 369,7

Liebe Schwestern und Brüder,


die Grille hatte den ganzen Sommer hindurch gesungen.

Als der Winter kam, fand sie nichts mehr zu essen.

Sie klopfte bei der Ameise an,

ob sie ihr nicht etwas Brot leihen könne,

sie würde es im Sommer auch mit Zinsen zurück zahlen.

Die Ameise fragte:

„Was hast du den ganzen Sommer über getrieben?” -

„Ich habe Tag und Nacht alle durch mein Singen erfreut”,

antwortete die Grille.

„Gesungen hast du?”, sagte die Ameise, „dann tanze jetzt!”


In dieser Fabel findet so mancher Künstler,

manche Künstlerin ihr Schicksal gespiegelt.

Nicht nur, wie prekär die Lage einer Künstlerin,

eines Künstlers sein kann.

Auch, wie schroff und zuweilen herzlos

die Gesellschaft auf eine Künstlerexistenz reagiert:

„Gesungen hast du? Dann tanze jetzt!”


Nicht nur Künstler:innen können in diese Lage geraten.

Auch wer die Worte des Liedes von Georg Neumark

zu wörtlich nimmt, besonders die letzte Strophe:


„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,

verricht das Deine nur getreu

und trau des Himmels reichem Segen,

so wird er bei dir werden neu.

Denn welcher seine Zuversicht

auf Gott setzt, den verlässt er nicht.”


Dabei beweist man doch gerade dadurch sein Gottvertrauen,

dass man singt, betet und auf Gottes Wegen geht

und dabei seine Zuversicht auf Gott setzt.

Damit gibt Georg Neumark eine Stelle der Bergpredigt wieder.

Jesus fordert darin auf (Matthäus 6,19-34):


„Sorgt euch nicht um euer Leben,

was ihr essen und trinken werdet;

auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.

Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung

und der Leib mehr als die Kleidung?

Seht die Vögel unter dem Himmel an:

Sie säen nicht, sie ernten nicht,

sie sammeln nicht in die Scheunen;

und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.

Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?”


I

Es wäre ein Zeichen von Gottvertrauen,

es wäre aufrichtiger Glaube,

wenn man Jesus’ Aufforderung folgen würde:


„Sorgt nicht für morgen,

denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.”


Aber leider funktioniert das nicht.

Wer sorglos in den Tag hinein lebt,

findet sich schneller als gedacht

als Bittsteller:in vor anderer Leute Tür wieder.

Da ist man angewiesen auf das Mitleid

und die Großzügigkeit anderer.

Doch meist trifft man nur Ameisen

und hat zum Schaden auch noch den Spott:

„Gesungen hast du? Dann tanze jetzt!”


Ameisenfleiß gilt viel in unserer Gesellschaft.

In der Emsigkeit ist die Emse, die Ameise, enthalten.

Diese Emsigkeit haben wir auch Immanuel Kant zu verdanken,

dessen 300. Geburtstag in der vergangenen Woche begangen wurde.

Sein ethisches Prinzip des kategorischen Imperativs,

wonach der Maßstab des eigenen Handelns

auch für alle anderen gelten solle,

wurde im Volksmund umgedreht zu der Formulierung:

„Ja, wenn das alle täten …!”


Ja, wenn alle wie die Grille in den Tag hinein lebten,

wer würde dann für den Winter vorsorgen?

Wer hielte die Wirtschaft am Laufen,

Produktion, Versorgung, Warenverkehr?

Wenn alle wie Grillen wären,

bräche unsere Wirtschaft zusammen.

Darum wird die emsige Ameise zum Vorbild erhoben:

Sie sorgt vor und kann immer von sich sagen:

Das habe ich alles allein geschafft

und bin niemandem etwas schuldig!

Von den Ameisen kommt deshalb das Sprichwort:

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!” -

ein radikaler Widerspruch zu den Worten Jesu

wie zu denen unseres Liedes.


II

„Ja, wenn das alle täten …”

Aus der Sicht der Emsigen

sind künstlerische Existenzen prinzipiell verdächtig:

Sie könnten ihnen eines Tages auf der Tasche liegen.

Das gilt nicht nur für Künstler:innen.

Ein alleinstehender Pastor war in seiner Gemeinde dafür bekannt,

dass er regelmäßig zu den Mahlzeiten

bei seinen Gemeindegliedern vorbeischaute.

Natürlich lud man ihn zu Tisch.

Aber hinter seinem Rücken tuschelte man,

er täte das absichtlich und würde sich durchfuttern.

Offenbar liegt eine solche Unterstellung nahe.

Aber wie viele klagen darüber,

dass sie nicht vom Pastor besucht werden!?

Dieser Pastor besuchte seine Gemeinde

und gab ihr Gelegenheit, großzügig und gastfreundlich zu sein.


Gastfreundschaft - früher einmal eine Selbstverständlichkeit

und ein hohes Gut: sie war heilig.

Ein Gast stand unter besonderem Schutz.

Früher wurde Besuch nicht als Last angesehen,

für den man das Haus aufräumen und putzen,

Essen zubereiten und ein Bett herrichten musste.

Sondern als jemand Besonderes, eine Bereicherung.

Ein Gast brachte Neuigkeiten, Informationen,

brachte den Duft der weiten Welt ins Haus.

Ein Gast brachte neue Geschichten,

die man sich im Winter am Ofen erzählen konnte,

oder neue Lieder mit.

Das, was ein Gast war und mitbrachte,

wurde für mindestens gleichwertig mit dem Aufwand gehalten,

den man seinetwegen betrieb.


Bei Künstler:innen wissen wir, was wir an ihnen haben.

Trotzdem sind heutzutage nur wenige bereit,

Geld für Konzert- oder Theaterkarten auszugeben

oder einer jungen, noch unbekannten Künstlerin

ein Bild abzukaufen.


Als Bundeskanzlerin Angela Merkel

ihren berühmt-berüchtigten Satz „Wir schaffen das” sagte

und syrische Flüchtlinge bei uns

einen Platz zum Überleben fanden,

wurden sie beim Karneval auf einem Umzugswagen

als Heuschrecken dargestellt.

Flüchtlinge als Heuschreckenplage,

die uns die Haare vom Kopf fressen -

ein wieder und wieder beschworenes Schreckensszenario.

Nichts dergleichen ist geschehen.

Niemand musste sich einschränken,

weil wir gastfreundlich waren zu Menschen in Not.


Warum sehen wir Fremde und Flüchtlinge als Schmarotzer,

die uns auf der Tasche liegen -

wie wir dem Pastor unterstellen,

er wolle sich nur durchfuttern?

Warum können wir nicht erkennen, was sie uns mitbringen

und was sie uns zu geben hätten,

wenn wir ihnen eine Chance gäben?

Wie sie uns bereichern durch ihr Wesen und ihr Wissen,

durch ihre andere Sicht auf unsere Gewohnheiten,

durch neue Kochrezepte, ungewohnte Klänge …


III

Der Fleiß der Emsigen,

die sich ihren Wohlstand aus eigener Kraft erarbeiten,

ist das Leitbild unserer Gesellschaft.

In seiner Extremform wird es zum amerikanischen Traum,

dass man es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen kann,

wenn man sich nur richtig anstrengt.

Die Kehrseite dieses neoliberalen Traumes ist,

dass er Sozialleistungen für überflüssig hält

und möglichst abschaffen will.

Nichts ist ihm unerträglicher,

als auf Kosten anderer zu leben

und vom eigenen Geld anderen abgeben zu müssen.

Im neoliberalen Paradies haben Grillen keine Chance.


Der Glaube entwirft ein anderes Bild.

Er hat keine Angst vor Abhängigkeit,

weil er sich auf Gott angewiesen, von Gott abhängig weiß.

Sein Ideal ist nicht, alles allein zu schaffen

und niemandem etwas schuldig zu sein.

Wir bleiben Gott gegenüber grundsätzlich Schuldner.

Darum ist es keine Schande, in jemandes Schuld zu stehen.

Es ist vielmehr eine Stärke,

anderen das Gefühl zu nehmen, Schuldner:in zu sein,

indem man ihnen Schuld erlässt und sie gastfreundlich einlädt.


Ein anderes Wort für Schuld erlassen ist Vergebung.

Vergebung und Gastfreundschaft gehören zusammen:

Gott vergibt uns und lädt uns in sein Haus ein.

Weil uns vergeben ist, können wir seine Gäste sein.

In seinen Gleichnissen erzählt Jesus vom gastfreundlichen Hausherrn

und meint damit Gott und sein Reich.

Seine Einladung verschmähen die Emsigen,

die besseres zu tun haben als zu feiern:

Sie gehen ihren Geschäften nach.


IV

„Sorgt nicht”, fordert Jesus auf.

Wie Gott die Vögel nicht umkommen lässt,

so wird er auch für euch sorgen.

Aber wie sorgt Gott für uns?

Wir haben eingangs festgestellt,

dass es nicht funktioniert, in den Tag hinein zu leben,

weil man sich dann unversehens als Bittsteller:in wiederfindet.


Wie sorgt Gott für uns?

Gott sorgt für uns durch Menschen,

die in ihrer Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft

nicht danach fragen,

was wir den ganzen Sommer über getrieben haben.

Sie öffnen uns die Tür, laden uns ein,

weil sie sehen und wert schätzen,

was wir sind und was wir ihnen zu geben haben -

oft, ohne es selbst zu wissen.


Es gibt solche Menschen.

Wir selbst sind ihnen hier und da begegnet.

Es waren besondere Erlebnisse,

es war bereichernd, bei ihnen einzukehren.

Wir fühlten uns reich beschenkt und merkten dabei gar nicht,

wie viel wir ihnen von uns gaben.


„Ja, wenn das alle täten …”

Unsere Gesellschaft muss sich nicht die Ameise zum Vorbild nehmen.

Der übrigens in der Fabel Unrecht geschieht:

Die Ameise gehört, wie Wespen und Bienen,

mit denen sie eng verwandt ist, zu den sozialen Insekten.

Aber sie sorgt nur für ihresgleichen,

für die Weitergabe der eigenen Gene,

um so einen evolutionären Vorteil zu erhalten.


Wir Menschen sind der natürlichen Auslese nicht mehr unterworfen.

Wir haben die Freiheit, uns anders zu entscheiden.

Wir haben die Freiheit, gastfreundlich zu sein,

die Grillen und die Fremden aufzunehmen

und ihnen einen Platz unter uns zu gewähren.

Ja, wenn das alle täten!