Sonntag, 21. April 2024

überschwängliche Gerechtigkeit

Predigt am Sonntag Jubilate, 21. April 2024, über Psalm 98,4-5.9

Liebe Schwestern und Brüder,


„jauchzet dem Herrn alle Welt. Singet, rühmet und lobet!”


Singen und Musizieren sind etwas Wunderbares.

Vor allem, wenn man es miteinander tut.

Dabei entsteht ein Klangraum,

in dem man sich gemeinsam bewegt.

Der Klang der Stimmen, der Instrumente erfüllen den Raum,

erfüllen alle, die sie hören,

sodass alle empfinden, was die Musik mitteilt:

Freude, Glück, Erhabenheit, auch Schmerz und Traurigkeit.

Man stimmt ein in die Worte, die man singt,

wird von ihnen überwältigt, und sie werden wahr,

nehmen Gestalt an durch die eigene Stimme,

und dann ist es Wirklichkeit:

Wir jauchzen dem Herrn. Wir singen, rühmen und loben.


Nicht immer ist einem zum Singen zumute.

Sonst müssten wir nicht aufgefordert werden: Jauchzet!

Es ist ja im Gegenteil eher so:

Viel zu selten spürt man einen solchen Überschwang,

einen solchen Jubel in sich,

dass man jauchzen möchte vor Glück.

Es gehört nicht zu unserem Alltagsrepertoire.

Und doch kennen wir es.

Und wenn auch nicht unsere Stimme jauchzte,

dann tat es unser Herz:


„Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel,

die Nacht ist verflattert, und ich freue mich am Licht.

So ein Tag, Herr, so ein Tag!

Deine Sonne hat den Tau weggebrannt

vom Gras und von unseren Herzen.

Was da aus uns kommt, was da um uns ist an diesem Morgen,

das ist Dank.

Herr, ich bin fröhlich heute, am Morgen.

Die Vögel und Engel singen, und ich jubiliere auch.

Das All und unsere Herzen sind offen für deine Gnade.

Ich fühle meinen Körper und danke.

Die Sonne brennt meine Haut, ich danke.

Das Meer rollt gegen den Strand,

die Gischt klatscht gegen unser Haus, ich danke.

Herr, ich freue mich an der Schöpfung

und dass du dahinter bist und daneben

und davor und darüber und in uns.

Ich freue mich, Herr, ich freue mich und freue mich.

Die Psalmen singen von deiner Liebe,

die Propheten verkündigen sie, und wir erfahren sie.

Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.

Ein neuer Tag, der glitzert und knistert,

knallt und jubiliert von deiner Liebe.

Jeden Tag machst du. Halleluja, Herr!”


I

Selten ist uns nach solchem Jubeln und Jauchzen zumute.

Wann bietet das Leben auch Anlass dazu?

Anstrengungen, Sorgen, das trostlose Einerlei des Alltags -

wer hat da Lust, zu jubeln?

Krankheit, Schmerzen, Einschränkungen, mit denen man leben muss,

Kummer, den man hat - wie sollte man da jauchzen?

Und selbst wenn man die Lust dazu in sich spürt,

bleibt es einem im Halse stecken

bei dem schlimmen Zustand, in dem sich unserer Welt befindet,

angesichts von Krieg, Zerstörung und Tod,

angesichts von Hunger, Unrecht und Unterdrückung.


So viel spricht dagegen, dass man sich kaum traut,

seiner Freude in der Weise Ausdruck zu verleihen,

wie es das Gebet aus Westafrika tut:

„Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.”

Das ist zu viel des Guten, zu viel des Überschwangs.

So einseitig jubeln, ohne das Schlimme mitzudenken,

darf man das denn überhaupt?


Was dagegen spräche, wurde schon benannt.

Was spräche denn dafür?

Ein sonniger, warmer Tag - vielleicht sogar der Geburtstag.

Ein unverhofftes Geschenk, ein unerwarteter Besuch.

Das Konzert der Vögel bei Sonnenaufgang.

Der Wind in den Haaren am Strand oder an Bord eines Seglers.

Die frische Luft nach einem Regenschauer.

Der Sonnenuntergang, der die Welt in ein besonderes Licht taucht.

Die Musik.


Der 98. Psalm nennt noch einen weiteren Grund dafür,

das Lob Gottes anzustimmen:


„Gott kommt, das Erdreich zu richten.

Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit

und die Völker, wie es recht ist.”


Auch Gerechtigkeit kann ein Grund zum Jubeln sein:

Wenn man sie erfährt, oder wenn sie am Ende siegt.


II

Gerechtigkeit - darunter verstehen wir

eine ausgleichende Gerechtigkeit:

Den Ausgleich unterschiedlicher, einander widerstreitender Interessen.

Deshalb hält Iustitia, das Recht in Person, eine Waage in der Hand.

Gerechtigkeit als Interessenausgleich, ausgleichende Gerechtigkeit

erleben wir, wenn jede:r das gleiche bekommt,

bzw. wenn jede:r bekommt, was ihr, was ihm zusteht.


Leider scheitert die ausgleichende Gerechtigkeit regelmäßig.

Sie scheitert an einer Eigenheit unseres Gerechtigkeitsempfindens:

Zwar spüren wir Ungerechtigkeit sofort,

wenn wir meinen, weniger zu bekommen, als uns zusteht -

oder wenn wir meinen,

andere bekämen mehr, als sie verdient haben.


Wir fühlen uns aber nicht ungerecht behandelt,

wenn wir mehr bekommen als andere.

Das nehmen wir gern hin oder denken gar,

wir hätten ein Recht darauf, es würde uns zustehen.

So kommt es bei allen Versuchen, Gerechtigkeit zu schaffen,

mit unerbittlicher Regelmäßigkeit dazu,

dass zwar im Prinzip alle gleich sind,

aber am Ende einige gleicher als die anderen.


III

Gottes Gerechtigkeit ist anders.

Sie ist nicht auf Ausgleich bedacht, auf Ausgewogenheit.

Im Gegenteil: Gefragt, wie oft man jemandem vergeben solle,

der einem Unrecht tat, antwortet Jesus:

Sieben mal siebzig Mal.


Gottes Gerechtigkeit schafft keinen Ausgleich,

keine gerechte Verteilung.

Sie gibt mit vollen Händen und fragt nicht,

ob der Empfänger es verdient hat.

Sie gibt, ohne zu überlegen,

sodass die Linke nicht weiß, was die Rechte tut.

Gottes Gerechtigkeit ist eine überschwängliche Gerechtigkeit.

Überschwänglich wie das Gebet aus Westafrika.

Überschwänglich wie die Musik.


In ihrem Überschwang ist Gottes Gerechtigkeit parteiisch,

weil ihr Maßstab die Liebe ist.

Wie wir aus Liebe zu unserer Familie

oder unseren Freund:innen zuerst an sie denken

und dann erst an all die anderen;

wie auch wir selten Grenzen der Liebe kennen -

Grenzen des Verständnisses, der Vergebung,

des Mitgefühls oder der Hilfsbereitschaft -,

wenn es um unsere Freund:innen, unsere Familie geht.


Weshalb Jesus immer wieder einschärfen muss,

dass unsere „Nächsten” nicht unsere Liebsten sind,

sondern die, die wir uns nicht ausgesucht haben

und die wir uns auch nicht aussuchen würden:

Wildfremde Menschen, unbequeme,

vielleicht sogar unangenehme Menschen,

die uns Gott - manchmal im Wortsinn - vor die Füße legt.


Gottes Liebe gilt den Menschen, für die er Partei ergreift.

Sein Volk, das er sich erwählte;

Menschen, die benachteiligt wurden:

Waisenkinder, Witwen, Ausländer:innen

waren es zur Zeit, als der Psalm gedichtet wurde.


Und sie sind es heute noch, da hat sich nichts geändert.

Es sind sogar noch weitere dazu gekommen:

- Menschen, die anders leben, anders lieben,

sich anders definieren als die Mehrheit der Gesellschaft.

- Frauen, die sich immer noch dagegen wehren müssen,

dass Männer über sie und ihren Körper

bestimmen und verfügen wollen.

- Kinder und Jugendliche, die sich nicht gehört,

in ihren Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen fühlen.

- Und auch - oder gerade, weil sie keine Stimme hat - die Natur:

Gottes Schöpfung und seine Geschöpfe,

deren Lebensräume wir vernichten,

deren Existenz wir bedrohen oder auslöschen.


IV

Gottes Gerechtigkeit ist parteiisch.

Gott ist auf der Seite derer, die nicht gehört werden,

weil man über sie hinweggeht,

weil man sie beiseite schiebt,

weil man sie niederbrüllt

oder mit Gewalt zum Verstummen bringt.


Wenn wir jauchzen, singen und loben,

leihen wir denen unsere Stimme, die keine haben.

Wir singen mit Maria von Gott,

der die Gewaltigen vom Thron stürzt

und die Niedrigen erhöht,

der die Hungrigen mit Gütern füllt

und die Reichen leer ausgehen lässt.


Wenn wir so singen, bewirken wir keinen Umsturz, keine Revolution,

auch wenn alles auf den Kopf gestellt wird - - -

oder vom Kopf auf die Füße?

Gottes Parteinahme gilt keiner Partei.

Sobald ehemals Niedrige, die reich und mächtig wurden,

sich über andere erheben und sie erniedrigen,

ist Gott nicht auf ihrer Seite.

Gottes Parteinahme gilt allen, die keine Stimme haben

oder die zum Verstummen gebracht wurden,

wer auch immer sie sind.


V

„Jauchzet dem Herrn, alle Welt!

Denn Gott kommt, das Erdreich zu richten.

Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit

und die Völker, wie es recht ist.”


Das Jauchzen und Loben, das Gott sich von uns wünscht,

ist nicht abhängig von unserer Stimmung.

Das kann es auch sein, wenn wir dadurch

unserem übervollen Herz Luft machen,

wenn wir Gott danken für das Glück, die Schönheit,

die Freude ode´r die Liebe, die wir erleben dürfen.


Das Jauchzen und Loben, das Gott sich von uns wünscht,

dient dazu, Gottes Gerechtigkeit in der Welt auszubreiten:

für die Partei zu ergreifen, die von keiner Partei vertreten werden;

denen unsere Stimmen zu leihen, die keine Stimme haben.

Wir singen von Gottes Gerechtigkeit.

Da richtet unser Gesang sie auf.

Unser Gesang richtet Menschen auf,

die bisher ihren Kopf einzogen,

sich nicht trauten, ihr menschliches Recht einzufordern,

sich verstecken oder verleugnen mussten.


Unser Gesang richtet Menschen auf,

die durch uns erfahren, dass es auch anders gehen kann.

An uns erleben sie Menschen, die anders sind.

Sie sehen, dass Menschen auch anders sein können:

Durchsichtig, durchscheinend für Gottes Liebe.

Wer Menschen so erlebt, so durchscheinend für Gottes Liebe,

so freundlich und mitmenschlich,

wird Gott jauchzen und loben.

Und dann ist es Wirklichkeit:

Wir jauchzen dem Herrn. Wir singen, rühmen und loben

mit unserem ganzen Sein, mit unserem ganzen Leben. Amen.