Donnerstag, 9. Mai 2024

Zeuge sein

Predigt an Christi Himmelfahrt, 9. Mai 2024, über Acta 1,3-11


Liebe Schwestern und Brüder,


Lukas erzählt die Geschichte von der Himmelfahrt zweimal.

Beim ersten Mal beschließt sie sein Evangelium -

wir haben es vorhin gehört:

Der Schluss des Evangeliums beschreibt den letzten Moment,

den Jesus mit seinen Jüngern verbringt.


Denn obwohl er auferstanden ist,

obwohl er, der am Kreuz gestorben und begraben war, wieder lebt,

kann Jesus nicht bei seinen Jüngern bleiben.

Er kehrt zurück zu Gott, seinem Vater.


Der Himmel, der ihn aufnimmt,

ist nicht der blaue Himmel über uns.

Auch nicht das Weltall mit seinen abermilliarden Sternen.

Der Himmel, in den Jesus zurückkehrt,

ist die ganz andere Wirklichkeit Gottes.


Die andere Wirklichkeit Gottes hat keinen Raum und keine Zeit.

Sie kann eine Handbreit rechts oder links von uns sein.

Sie befindet sich mitten unter uns, und wir bemerken es nicht.

Sie übersteigt unsere Wirklichkeit.


Bevor Jesus den Schritt in diese andere Wirklichkeit tut,

in die seine Jünger ihm nicht folgen können,

spricht er zum letzten Mal mit seinen Jüngern.

Er nimmt Abschied.

Es ist kein Abschied für immer, denn sie werden ihn wiedersehen.

Dann wird Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit anbrechen.


Es ist auch kein Abschied wie bei einer Reise,

die unter Umständen sehr lange dauern kann,

bei der aber das Datum der Rückkehr fest steht.

Jesus geht auf unabsehbare Zeit

und niemand weiß, wann er wiederkommen wird.

Nicht einmal Jesus selbst.


Die ersten Christ:innen erwarteten noch,

dass sie seine Wiederkunft erleben würden.

Doch schon bei Paulus kann man nachlesen,

wie aus seiner Erwartung, Jesus würde bald kommen,

um das Reich Gottes auf Erden zu errichten,

die Einsicht erwächst, dass er es nicht mehr erleben wird.


Für Lukas, der eine Generation nach Paulus gelebt hat,

ist diese Einsicht schon Vergangenheit

und das Reich Gottes in weite Ferne gerückt.

Als er den Abschied Jesu schildert, ist Lukas klar:

Die Jünger müssen ohne ihn zurecht kommen.


I

Was sagt man beim Abschied?

Was gibt man Menschen mit,

wenn man sie ins Leben entlässt,

wie am Sonntag die Konfirmand:innen?


Was wurde Ihnen mitgegeben,

als Sie sich von Ihren Eltern verabschiedeten,

um Ihr eigenes Leben zu beginnen?

Was haben Sie Ihren Kindern mitgegeben,

als die von zuhause auszogen?


Im Moment des Abschieds kann man nicht mehr viel mitgeben -

dazu ist dieser Moment zu kurz.

Man hofft, dass man in der Zeit des Zusammenseins

genug getan, genug gegeben hat,

dass die Kinder von nun an gut allein zurechtkommen.


Man hat in diesem Moment auch keine Zeit zu überlegen,

was jetzt das wichtigste wäre,

das noch gesagt oder mitgegeben werden müsste.

Man gibt mit, was einem gerade einfällt:

mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge.


Jesus gibt seinen Jüngern nur eine einzige,

wichtige Sache mit auf den Weg:

Er lässt ihnen einen Schlüssel da.

Keinen Haus- oder Kirchenschlüssel,

keinen Schlüssel zu einer vergrabenen Schatztruhe.

Sondern den Schlüssel, der ihnen die Schrift aufschließt.


II

Schon einmal gab er zweien seiner Jünger diesen Schlüssel.

Als er ihnen auf dem Weg nach Emmaus begegnete,

auf dem sie ihn nicht erkannten,

schloss er ihnen die Schrift auf.

Da verstanden die beiden Jünger,

warum Christus leiden und sterben musste,

und dass er wieder auferstanden war.

In diesem Moment erkannten sie endlich, wer er war.


Der Schlüssel, der das Wort Gottes aufschließt,

macht die hebräische Bibel zu einer Quelle,

aus der die Jünger ihr Wissen über Jesus schöpfen.

Sie hatten ihn erlebt, hatten mit ihm gelebt;

sie hatten seine Predigten gehört und seine Taten gesehen.

Aber sie hatten ihn nicht verstanden.


Das Verständnis kommt jetzt.

Sie erkennen, dass der, von dem die Propheten reden:

der das geknickte Rohr nicht zerbricht

und den glimmenden Docht nicht auslöscht (Jes 42,3);

der um unserer Missetat willen verwundet

und um unserer Sünde willen zerschlagen wurde (Jes 53,5);

der nach drei Tagen auferstand,

wie Jona drei Tage im Bauch des Fisches war,

bevor der ihn wieder aufs feste Land ausspuckte:

dass das Jesus ist.


Mit diesem Schlüssel wird ihnen die ganze Bibel

zu einem Buch, das über Jesus erzählt;

das ihnen erklärt, wer er ist

und das die Lücken schließt, die sein Weggehen zurücklässt.


Nun wissen sie über Jesus bescheid

und können anderen erzählen, wer Jesus war.

Sie werden seine Zeugen.

Lukas wählt gerade dieses Wort „Zeugen”, weil die Jünger

mit ihren Predigten und ihrem Leben für das einstehen,

was Jesus gesagt und getan hat.


Sie erzählen nicht nur von ihm, sie bezeugen ihn.

Dadurch können Menschen,

die ihn zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt haben,

Jesus trotzdem noch kennen lernen,

wenn sie seinen Jüngern begegnen.


III

Das zweite Mal erzählt Lukas von der Himmelfahrt

am Anfang des zweiten Buches, das ihn als Autor nennt:

in der Apostelgeschichte.

Die Apostelgeschichte berichtet,

was nach der Himmelfahrt geschah:

Sie erzählt von Pfingsten

und von der Gründung der ersten Gemeinden.


Vor allem erzählt sie von einem Apostel,

der zu den ersten gehörte,

die Jesus zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt hatten:

von Paulus.


Paulus lernte die Jünger Jesu kennen,

die er vorher verfolgt hatte;

sie erzählten ihm von Jesus.

Aber wer Jesus war, und was Jesus für uns bedeutet,

das hatte sich Paulus selbst aus der hebräischen Bibel erschlossen,

die er sehr gut kannte.


Im Galaterbrief sagt er ausdrücklich,

dass er sein Evangelium nicht von einem Menschen gelernt habe,

sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi (Gal 1,12).

Er ist selbst darauf gekommen -

Christus zeigte sich ihm in der Schrift.


Auch Paulus erhielt den Schlüssel,

der ihm die Schrift aufschloss, von Jesus.

Aber er ging den Weg genau andersherum:

Den Jüngern half die Bibel,

ihre Erfahrungen mit Jesus zu deuten und zu verstehen.

Paulus, der keine Erfahrungen mit Jesus hatte,

erkannte durch die Bibel,

dass der Messias, an den er als Jude bereits glaubte,

der Mensch Jesus von Nazareth war,

dessen Anhänger er verfolgt hatte.


IV

Die Himmelfahrt am Ende des Evangeliums

erzählt von einem Abschied.

Die Himmelfahrt am Anfang der Apostelgeschichte

erzählt von einem Anfang:

der Gründung der ersten Gemeinden,

dem Beginn der Kirche.


Dieser Anfang wurde gemacht durch Menschen,

die zu Zeugen wurden.

Dabei kam es nicht darauf an,

dass sie Jesus persönlich gekannt hatten

oder besonders viele Details aus seinem Leben wussten.

Der wichtigste Zeuge für Lukas ist der Apostel Paulus,

der Jesus zu seinen Lebzeiten nicht kennengelernt hatte.


Lukas macht Paulus zum Helden seiner Geschichte

über die Gründung der Kirche.

Nicht die Jünger Jesu, die ihm doch viel näher gestanden hatten,

die mit ihm gesprochen, mit ihm gegessen, ihn berührt hatten

und von ihm berührt worden waren.


Um Zeuge zu sein, muss man nicht zum Inner Circle gehören.

Man muss kein besonderes Wissen haben,

nicht die wichtigen Leute kennen.

Zeuge wird man, wenn man den Schlüssel hat,

der die Schrift aufschließt.


Diesen Schlüssel haben wir alle.

Viele von uns haben ihn bereits erhalten,

als wir weder lesen noch schreiben,

ja, nicht einmal sprechen konnten:

bei unser Taufe als Kleinkinder.


Bei der Taufe wurde uns die Hand aufgelegt

und uns der Heilige Geist zugesprochen.

Die Kraft des Heiligen Geistes schließt uns die Schrift auf

und macht uns zu Zeug:innen.


Denn die Handauflegung gibt nicht nur den Segen Gottes weiter,

seinen Heiligen Geist.

Die Handauflegung ist auch ein Zeichen der Berufung.

Die Konfirmand:innen werden damit eingesegnet,

Kirchenvorsteher:innen oder Pastor:innen in ihr Amt eingeführt.

Die Handauflegung bei unserer Taufe

hat uns alle zu Zeug:innen berufen.


V

Auch durch unser Reden und Tun können Menschen erleben,

wer Jesus ist und vor allem: Wie Jesus ist.

Dazu müssen wir nicht ständig von Jesus erzählen,

müssen keine Bibelzitate im Mund führen.


Wir verkörpern Jesus, wenn wir so reden und handeln,

wie Jesus es uns gelehrt hat und sich von uns wünscht:

In Liebe zu Gott, zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen.


Wer versucht, in dieser dreifachen Liebe zu leben,

sich von dieser dreifachen Liebe leiten zu lassen,

wird anders handeln, anders reden,

anders leben und anders sein als die anderen.


Wird Nein! sagen, wenn andere zu etwas Ja sagen

und Ja, wenn andere zu einem Menschen Nein sagen.


Wird sich nicht von Hass regieren lassen,

sondern von Mitgefühl;

nicht von Neid, sondern von Verständnis.


Wird Respekt haben vor allen Menschen,

auch denen, die nicht einer Norm entsprechen,

auch den Fremden und befremdlichen.


´Und wird die Geschöpfe und die Schöpfung achten

und dadurch den Schöpfer ehren.


So werden wir zu Zeug:innen für Jesus.

So werden Menschen überzeugt,

gewonnen für die Sache Jesu.

So ist schon ein kleines Stück von Gottes Reich,

so ist der Himmel unter uns zu sehen,

und wir sind mitten drinnen.