Sonntag, 8. September 2024

mach dir keine Sorgen

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 8.9.2024, über Matthäus 6,25-34

Liebe Schwestern und Brüder,

„Frau Meier machte sich Sorgen.
Gerade noch sorgte sie sich um einen Knopf an ihrem Wintermantel,
der abzufallen drohte.
Später war es dann vielleicht einer ihrer Kuchen.
Ob sie etwa doch zu wenig Rosinen genommen hatte?
Oder noch etwas später, konnten es einige Haare
auf dem Kopf von Herrn Meier sein,
die so merkwürdig in die Höhe zeigten.
Manchmal sorgte sie sich auch um die Flugzeuge,
die hin und wieder über ihren Garten flogen,
ob nicht eins von ihnen abstürzen könnte
und ob dann womöglich das Radieschenbeet verwüstet wäre,
und ob sie schließlich genügend Platz im Hause hätten
für all die erschrockenen Passagiere.
Gelegentlich zählte Frau Meier deshalb
ihren Vorrat an Mullbinden und Heftpflaster.”

Mit Sorgen beginnt das Bilderbuch „Frau Meier, die Amsel” von Wolfgang Erlbruch.
Ein Bilderbuch ist für Kinder gedacht.
Aber ich habe meine Zweifel, ob Kinder sich solche Sorgen machen -
ob sie überhaupt verstehen, was „Sorgen” sind.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke,
dann war sie, soweit ich mich erinnern kann, frei von Sorgen.

Die ersten richtigen Sorgen habe ich mir gemacht, als ich selbst eine Tochter hatte:
Dieses kleine, zarte Wesen, das ich kurz nach der Geburt auf dem Arm halten durfte,
sah so zerbrechlich aus, dass ich schreckliche Angst bekam:
Angst um meine Tochter,
Angst, ich könnte ihr wehtun oder etwas an ihr kaputtmachen.
Angst, die Welt, das Leben könnten ihr wehtun.
Mit der Verantwortung für diesen wunderbaren Menschen kamen die Sorgen um mein Kind.

Kinderbücher, der Name sagt es, sind für Kinder da.
Geschrieben und illustriert werden sie aber von Erwachsenen.
Nach unzähligen Bilderbüchern,
die ich mit meiner Tochter angeschaut und ihr vorgelesen habe, kann ich sagen:
Sie sind ebenso für Erwachsene gemacht wie für Kinder.
In den Sorgen der Frau Meier, die Kinder zum Glück noch nicht kennen,
erkennen wir uns wieder, nicht die Kinder -
die hören und verstehen die Geschichte oft ganz anders,
und ihnen sind die Bilder mindestens genauso wichtig wie die Geschichte selbst.
Ich musste jedenfalls lachen, als ich von Frau Meiers Sorgen las,
weil ich mir oft auch solche Gedanken mache
und beim Lesen merkte, wie unnötig und überflüssig sie sind.

Meine Kindheit war sorgenfrei.
Aber es gibt wohl Kindheiten, die nicht so sorglos waren wie meine.
Ich denke an meine Eltern, die in den Kriegsjahren aufgewachsen sind.
Ich denke an die Kinder, die jetzt in den Kriegs- und Krisengebieten unserer Zeit,
in den Flüchtlings- und Auffanglagern aufwachsen.
Das erinnert mich an ein anderes Kinderbuch,
an „Pünktchen und Anton” von Erich Kästner.
Darin wird von Pünktchen erzählt, die eigentlich Luise heißt
und völlig sorgenfrei mit Kindermädchen und Köchin aufwächst,
weil ihre Eltern sehr wohlhabend sind,
während ihr Freund Anton in ständiger Sorge lebt,
weil seine Mutter ein „Gewächs” im Bauch hat und nicht arbeiten kann
und weil er neben der Schule Geld verdienen muss,
damit er etwas zu Essen kaufen kann -
so war das damals in den 1920er Jahren in Berlin.

Ob man Sorgen kennenlernt oder nicht,
hat bei Erich Kästner mit dem Wohlstand zu tun:
Wer im Wohlstand aufwächst und lebt,
braucht sich keine Sorgen zu machen und kennt daher keine Sorgen,
während Armut ein ständiges sich Sorgen bedeutet,
wie man den nächsten Tag bestehen und überstehen soll.
Je nach unseren Erfahrungen - ob wir im Wohlstand,
also relativ sorgenfrei aufwachsen durften,
oder ob wir Sorgen durch Krieg, Not, Krankheit oder Armut erfahren mussten,
hören wie die Worte Jesu aus dem Evangelium anders.

„Sorgt euch nicht” - die einen denken dabei an die überflüssigen Sorgen der Frau Meier,
die anderen an die existentiellen Sorgen des Schülers Anton,
der sich um seine Mutter, den Haushalt und das Essen kümmern muss.
Und je nach Blickwinkel ist die Antwort Jesu eher seelsorgerlicher Natur,
oder sie erscheint als Provokation.

Bei Frau Meier ist wohl eher Seelsorge nötig.
Darum kocht Herr Meier ihr jedes Mal, wenn sie sich Sorgen macht, einen Pfefferminztee.
Der hilft nicht wirklich gegen die Sorgen, aber er beruhigt.

Doch wie würde Anton aus Kästners Kinderbuch reagieren,
wenn Jesus ihn aufforderte, sich keine Sorgen zu machen?
Würde er sich nicht furchtbar aufregen?
Würde er nicht Jesus klagen, welche Last er als Kind schultern muss,
und dass er in der Schule von seinem Lehrer, Herrn Bremser, gescholten wird,
weil er so oft im Unterricht einschläft - dabei kommt das doch daher,
dass er bis spät in die Nacht arbeitet,
um ein bisschen Geld zum Leben zu verdienen.
Vielleicht würde er sogar weinen vor Wut - oder aus Enttäuschung.

„Sorgt euch nicht” - das kann vielleicht wirklich nur jemand sagen,
der mit einem silbernen Löffel im Mund aufgewachsen ist,
oder mindestens in Verhältnissen, in denen es immer genug gab:
Genug zu Essen, genug Liebe, genug Sicherheit und Frieden.

Auch zur Zeit Jesu wird es solche Leute wie Anton gegeben haben:
Leute, die nicht wussten, wie sie den nächsten Tag überstehen sollten.
Ob die etwas anfangen konnten mit den Vögeln unter dem Himmel
und den Lilien auf dem Felde?
Mussten sie diesen Vergleich nicht zynisch finden?
Was nützt es, dass mein himmlischer Vater die Vögel nährt und die Lilien kleidet,
wenn ich nicht weiß, woher ich etwas zu Essen bekommen soll?

Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson hat dazu geschrieben:
„Consider the lilys is the only commandment I ever obeyed” -
„Seht die Lilien ist das einzige Gebot, das ich je erfüllt habe.”
Das sagt sie nicht nur als Dichterin, die Augen für die Schönheit hat.
Das ist auch ihre Antwort auf die Aufforderung Jesu, sich keine Sorgen zu machen.
Da ihr das nicht gelingt, bleibt ihr nur, die Lilien anzuschauen.
Doch vom Anschauen der Lilien wird einem nicht warm,
wie man auch nicht satt wird, wenn man Vögel beobachtet.

Jesus kann nicht gemeint haben,
dass man einfach in den Tag hinein leben soll.
Auch verlangt er nicht, darauf zu warten, dass Essen vom Himmel fällt
wie das Manna, das die Israeliten in der Wüste fanden.
„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit,
so wird euch das alles zufallen”
- dabei legt man nicht die Hände in den Schoß.
„Trachten” ist dasselbe wie erstreben,
eine ernsthafte und anstrengende Tätigkeit.

Auch Sorgen sind anstrengend.
Aber diese Anstrengung verpufft, weil sie zu nichts führt -
außer, dass man dasitzt, grübelt und immer hoffnungsloser wird.
„Sorgt euch nicht” ist für Jesus nicht Tatenlosigkeit,
sondern ein Umlenken der Kräfte auf etwas,
das die Anstrengung wirklich lohnt: Das Reich Gottes.

In dem Bilderbuch „Frau Meier, die Amsel” findet Frau Meier
ein Amseljunges im Garten, das aus dem Nest gefallen ist.
Jetzt hat sie allen Grund zur Sorge - und alle Hände voll zu tun.
Es ist ziemlich anstrengend, einen Jungvogel aufzuziehen;
Frau Meier muss sich Tag und Nacht um den kleinen Vogel kümmern.
Am schwersten ist es aber, ihm das Fliegen beizubringen,
weil Frau Meier das als Mensch natürlich nicht kann.
Hier liegt die Pointe der Geschichte: Frau Meier lernt zu fliegen
und stellt dabei fest: Es ist ganz einfach!

In einem Kinderbuch können Menschen fliegen, einfach so.
Der Erwachsene, der das Kinderbuch vorliest,
versteht das Fliegen im Übertragenen Sinn: als frei sein.
Sorgen nehmen einen Menschen gefangen,
engen ihn so ein, dass er an nichts anderes mehr denken kann
als an das, was ihm solche Sorgen macht.
Man fühlt sich ohnmächtig und schwach.
Man sieht die Lilien nicht mehr und bewundert nicht ihre Schönheit,
man freut sich nicht am Flug der Vögel und an ihrem Gesang.

Wenn Jesus dazu auffordert, sich nicht zu sorgen,
meint er nicht, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe.
Auch Jesus sorgt sich - z.B. um die 5.000 Menschen, die seiner Predigt zuhören:
Er sorgt dafür, dass sie nicht hungrig nach Hause gehen müssen.
Dafür müssen er und seine Jünger ganz schön schuften,
um die fünf Brote und zwei Fische unter die Leute zu bringen
und hinterher die Brocken in ein Dutzend Körbe zu sammeln.

Indem Jesus uns die Sorge nehmen will,
möchte er uns die Freiheit schenken, von der Sorge abzusehen
und statt dessen z.B. die Lilien zu bewundern.
Denn dann lebt man.

Leben, das stellt Jesus im Abschnitt vor den Worten über das Sorgen fest,
Leben ist nicht das Besitzen von Dingen - einem Haus, einem Auto
und all dem, was uns die Werbung als begehrenswert vor Augen stellt.
Leben ist die Fähigkeit, die Schönheit zu sehen,
die uns umgibt und die uns begegnet.
Leben ist die Fähigkeit, etwas zu gestalten, Schönes zu erschaffen.

„Sorgt euch nicht” - wer von Jesus lernt, von der Sorge abzusehen,
lernt zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich lebenswichtig ist
und dem, was sich bloß wichtig nimmt,
was wir aber eigentlich gar nicht brauchen.

Wer lernt, die Lilien auf dem Felde in ihrer Schönheit zu sehen,
bekommt dadurch neue Perspektiven auf sein Leben,
auf sich und seine Mitmenschen.
Sieht Möglichkeiten, wo vorher nur Probleme waren;
sieht Auswege, wo es vorher scheinbar nur Sackgassen gab.

Vor allem aber entdeckt man das Leben und die Lebensfreude wieder,
die man zuletzt vielleicht als Kind erlebt hat,
als man unbeschwert und ohne Sorgen in den Tag hinein lebte,
mit anderen spielte und selbstvergessen Schönes erschuf.

Vielleicht ist die Aufforderung „Sorgt euch nicht”
deshalb auch eine Erinnerung an unsere Kindheit -
an das, was uns damals glücklich machte, was uns wichtig war,
was wir alles geschafft und geschaffen haben.

Auch wenn die Kindheit unwiederholbar vorbei ist:
Was uns damals glücklich machte, wird es auch heute noch tun.
Nehmen Sie ein Buch aus Kindertagen zur Hand,
erinnern Sie sich an Ihre Träume, Ihre Phantasie
und entdecken Sie die Schönheit der Lilien auf dem Felde wieder
und die Schönheit des Menschen, der Ihnen im Spiegel entgegenblickt.