Sonntag, 22. Dezember 2024

Aschenbrödel

Predigt am 4. Advent, 22. Dezember 2024, über das Magnifikat, Lukas 1,46-48,
mit Luthers Erklärung des Magnifikat von 1521 (Calwer Luther-Ausgabe, Bd. 9).
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe bei GTB Siebenstern, ISBN 3-579-04819-8.


Liebe Schwestern und Brüder,

keine der christlichen Tugenden steht so hoch im Kurs wie die Demut.
Zugleich ist nichts schwerer, als auf rechte Weise demütig zu sein,
das heißt: Ohne zu gucken, ob auch einer guckt, wie bescheiden ich bin.
Denn Demut, die man zur Schau stellt, kann keine Demut sein.

In der Vorweihnachtszeit spielt das Aschenbrödel wieder eine große Rolle.
Sie ist ein Beispiel für wahre Demut.
Auch Martin Luther erwähnt das Aschenbrödel
in seiner Auslegung des Magnifikat,
obwohl er natürlich den Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel” nicht kannte.

Wir wollen uns von Luthers Auslegung des Magnifikat erklären lassen,
was Demut ist, wie man wirklich demütig ist -
und was uns das über uns und unseren Glauben lehrt.
Denn das Magnifikat ist nicht bloß ein Song, den Lukas aufgeschrieben hat;
Maria war auch keine Schlagersängerin.
Sondern es ist ein seelsorgerliches Lied,
das dazu dient, unseren Glauben zu stärken, alle Geringen zu trösten
und alle hohen Menschen auf Erden zu schrecken (32).

Hören wir also zunächst auf die Verse des Magnifikat,
auf die Martin Luther sich bezieht, in seiner Übersetzung:

Meine Seele erhebt den Herrn,
        und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
        denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
        Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
        Denn er hat große Dinge an mir getan,
        der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.

Meine Seele erhebt den Herrn.
Maria sagt nicht: „Meine Seele macht groß - sich selbst.”
Vielmehr macht sie Gott allein groß.
Maria dachte nicht anders als so:
Sie wollte, wenn eine andere diese Güter von Gott empfangen hätte,
ebenso fröhlich sein und es ihr ebenso wohl gönnen als sich selbst.
Sie wäre auch dann noch wohl zufrieden gewesen,
wenn Gott ihr diese Güter weggenommen
und vor ihren Augen einer anderen gegeben hätte. (35)

Maria findet sich als Gottesmutter über alle Menschen hinausgehoben
und bleibt dabei doch so einfältig und gelassen,
dass sie deshalb nicht eine geringe Dienstmagd
für unter ihr stehend angesehen hätte. (35)

Martin Luther vergleicht ihre Haltung mit der des Aschenbrödels:
Das arme Aschenbrödel hat nichts als lauter Mangel und Ungemach,
sucht keinen Nutzen und lässt sich darin genügen,
dass Gott gut ist, auch wenn sie es niemals empfinden sollte
(was jedoch unmöglich ist). (38)

Maria rühmte sich nicht ihrer Demut,
denn vor Gottes Augen kann sich niemand eines guten Dinges
ohne Sünde und Verderben rühmen. (41)
Gott allein erkennt die Demut;
er allein beurteilt und offenbart sie auch,
so dass der Mensch niemals weniger von der Demut weiß
als eben dann, wenn er recht demütig ist. (42)

Mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
        denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Was Maria sagen will, ist das:
„Gott hat auf mich armes, verachtetes, unansehnliches Mägdlein gesehen
und hätte doch wohl reiche, hohe, edle, mächtige Königinnen gefunden,
Töchter von Fürsten und großen Herren.” (43)
Maria hat sich weder ihrer Jungfrauschaft noch ihrer Demut gerühmt,
sondern einzig des gnädigen, göttlichen Ansehens;
darum liegt die Betonung nicht auf dem Wörtlein „Niedrigkeit”,
sondern auf dem Wörtlein „angesehen”. (43)

Die wahrhaft Demütigen werden selbst nie gewahr, dass sie demütig sind. (44)
So begibt es sich darum auch,
dass solchen allezeit unversehens die Ehre widerfährt, ohne dass sie daran denken.
Darum muss Maria die Ehre und Höhe unversehens zukommen.
So sagt Lukas (1,29), dass der Gruß des Engels
der Maria in ihren Augen seltsam erschien.

Umgekehrt weiß die falsche Demut niemals, dass sie Hochmut ist.
Die falschen Demütigen wundert es,
dass ihre Ehre und Erhöhung so lange ausbleibt. (45)
Die auf falsche Weise Demütigen verachten sich selber in einer Weise,
dass sie dann doch von niemand verachtet sein wollen;
sie fliehen die Ehre so, dass sie dann doch damit verfolgt sein wollen;
sie meiden hohe Dinge, damit man sich dann doch um sie bemühe. (46f)

Denn er hat große Dinge an mir getan,
        der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Maria hebt zuerst bei sich an und singt, was Gott ihr getan hat.
Damit lehrt sie uns zwei Stücke. Das erste:
Ein jeder soll auf das acht haben, was Gott bei ihm wirkt,
mehr als auf die Werke, die er bei andern tut. (48)
Jeder soll mit allem Fleiß sein Augenmerk auf sich
und auf Gott richten, nicht anders,
als wäre er und Gott allein im Himmel und auf Erden,
und als hätte Gott mit niemand als mit ihm zu schaffen;
dann mag er auch auf die Werke anderer Leute sehen. (50)

Das zweite, was Maria hierin lehrt, ist:
Ein jeder soll der erste sein wollen in Gottes Lob
und soll Gottes Werke, die an ihm geschehen sind, bekannt machen. (50)
So findet man zur Zeit viele, die Gottes Güte nicht loben,
weil sie sehen, dass sie nicht ebensoviel haben
wie dieser oder jeder auf Erden.
Sie achten es gering, dass sie doch mit Gütern Gottes
überschüttet sind, die sie nicht erkennen, als da ist
Leib, Leben, Vernunft, Gut, Ehre, Freunde,
samt dem Dienste, den ihnen die Sonne tut mit allen Kreaturen. (50f)

Er hat große Dinge an mir getan,
        denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
        Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Als das erste Werk Gottes an ihr bekennt Maria, es sei das „Ansehen”.
Sie spricht: „Siehe da, um dieses Ansehens willen
werden mich Kindeskinder selig preisen.”
Beachte diese Worte!
Damit wird nicht sie gelobt, sondern Gottes Gnade über ihr,
ja, sie wird sogar verachtet und verachtet sich selber,
indem sie sagt, ihre Nichtigkeit sei von Gott angesehen worden. (53)

Darum fügt Maria noch etwas hinzu, indem sie sagt:
„Und heilig ist sein Name.”
Das heißt: „Wie ich mir das Werk nicht anmaße,
so maße ich mir auch den Namen und die Ehre nicht an.”
Denn dem gebührt allein die Ehre und der Name, der das Werk tut.
Es ist unbillig, dass einer das Werk tut
und ein anderer den Namen davon hat.

Sieh, wie vollständig führt sie alle Dinge auf Gott zurück;
wie maßt sie sich überhaupt kein Werk,
keine Ehre, keinen Ruhm an!
Sie verhält sich doch gerade wie vorher,
als sie nichts von alledem hatte,
fragt auch nicht nach mehr Ehre als vorher. (62)

Das heißt nun, dass sein Name heilig ist.
Denn „heilig” heißt, was abgesondert, Gott gehörig ist,
was man nicht berühren und beflecken,
sondern in Ehren halten soll.
So soll sich jedermann zurückhalten von dem Namen Gottes,
soll ihn nicht antasten, sich ihn nicht aneignen. (63)

Wenn uns jemand lobt und damit einen Namen verschafft,
sollen wir das Beispiel der Mutter Gottes ergreifen
und immer bereit sein, darauf zu antworten:

„O Herr Gott, das Werk ist dein, das da gelobt und gerühmt wird,
        lass auch den Namen dein sein.
        Nicht ich, Herr, sondern du hast dies getan,
        der du in deiner Macht alle Dinge tust, und heilig ist dein Name.”

So soll man das Lob und die Ehre nicht bestreiten,
als wäre es unrecht, oder verachten, als wäre es nichts,
sondern man soll es sich nicht anmaßen,
als wäre es ein allzu edles, köstliches Ding,
und soll es dem im Himmel heimbringen, dem es gehört. (64)

Demut, wie Martin Luther sie in seiner Auslegung des Magnifikat beschreibt,
ist kein Verhalten, sondern eine Haltung.
Eine Haltung, die entsteht, weil man erkennt,
dass man Gottes Gnade an sich erfahren hat.
„Es ist nicht genug”, schreibt Luther, „dass du glaubst,
Gott wolle an anderen, aber nicht an dir große Taten tun.
Du muss vielmehr ohne alles Zweifeln den Willen Gottes über dich
dir vor Augen stellen, so dass du fest glaubst,
er werde und wolle auch mit dir große Dinge tun.
Ein solcher Glaube dringt durch und ändert den ganzen Menschen.” (32)