Predigt am Ostersonntag, 20. April 2025, über Johannes 20,11-18
Maria stand weinen draußen beim Grab. Wie sie nun weinte, beugte sie sich ins Grab vor und sieht zwei Engel in weiß dasitzen, einen am Kopf- und einen am Fußende, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Die sagte zu ihr: „Frau, warum weinst du?” Sagt sie zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggetragen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben. Als sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und sieht Jesus dastehen - aber sie wusste nicht, dass es Jesus ist. Jesus sagt zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie denkt, es ist der Friedhofswärter, und sagt zu ihm: Mein Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wohin du ihn gebracht hast, und ich will ihn holen. Sagt Jesus zu ihr: „Maria!” Sie wendet sich um und sagt zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! (das bedeutet: mein Lehrer). Sagt Jesus zu ihr: Lass mich los, ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich gehe zu meinem Vater und ihrem Vater, und zu meinem Gott und ihrem Gott. Maria Magdalena geht und berichtet den Jüngern: „Ich habe den Herrn gesehen!”, und das habe er ihr gesagt.
Liebe Schwestern und Brüder,
warum weinst du? Wenn man meint, hier will jemand neugierig wissen, was Maria zu Tränen rührt, missversteht die Frage gründlich. Wer gefragt wird: „Warum weinst du?”, spürt die Bereitschaft des Fragers, zuzuhören, hört das Angebot, sein Herz bei ihm auszuschütten und zu sagen, was einen bedrückt.
Wir sind auch neugierig. Gerade Eltern wollen von ihrem weinenden Kind zuerst wissen, ob es sich weh getan hat und wo, bevor sie es trösten. Denn es könnte sich ernstlich verletzt haben, und man müsste zuerst die Verletzung behandeln, bevor man die Tränen trocknen kann.
Bei Erwachsenen merkt man gleich, ob sie weinen, weil sie Schmerzen haben, oder weil ein Kummer sie schüttelt. Wer dann fragt: „Warum weinst du?”, ist bereit, sich Zeit für den Kummer des anderen zu nehmen, ihr, ihm zuzuhören und sich erzählen zu lassen, was das Herz so schwer macht.
Maria bekommt von zwei Engeln das Angebot, ihnen ihr Herz zu öffnen, und von Jesus, den sie für den Friedhofswärter hält. Aber sie ist zu gefangen in ihrer Trauer, zu geschockt von der schrecklichen Entdeckung, die sie gerade machen musste: Dass der Leichnam ihres Freundes fort ist. Mehrmals dreht sie sich um - so durcheinander, so irritiert ist sie. Wir können nachfühlen, wie es Maria geht. Man nennt das Einfühlungsvermögen, mit einem Fachbegriff: Empathie: Die Fähigkeit, sich in die Gefühle eines anderen hineinzuversetzen.
Die Empathie wird gerade von der Trump-Regierung abgeschafft. Ein Evangelikaler Theologe in den USA, Albert Mohler, hat in einem Podcast mit dem Autor Joe Rigney über die „Sünde der Empathie” gesprochen. Zu fühlen, was andere fühlen, sei eine therapeutische Kategorie, sagt er, keine moralische. Empathie würde nur bedeuten, niemals Nein sagen zu müssen, weil man die Sichtweise des anderen akzeptiert und sich in ihn hineinversetzt. Allein Mitleid und Mitgefühl seien moralische Kategorien, weil sie auf objektiven Kriterien beruhten.
Solche objektiven Kriterien könnten z.B. sein, dass jemand um eine Angehörige trauert, oder dass sich jemand schwer verletzt hat. Da ist Mitleid am Platze, auch Mitgefühl. Empathie wäre in diesem Zusammenhang gar nicht nötig, denn der Grund der Trauer liegt ja auf der Hand und teilt sich einem sofort mit.
Dass Mohler und die Regierung unter Trump der Empathie den Kampf ansagen, hat einen Grund: Es ist die Einwanderung, die die Regierung stoppen will. Die Empathie wird dafür verantwortlich gemacht, dass so viele Menschen in die USA flüchten, nach dem Motto: Wer auf Verständnis für seine Lage hoffen kann, macht sich auf den Weg. Wer weiß, dass es aussichtslos ist, geht gar nicht erst los.
Die Einwanderung ist der Anlass, die Empathie zu bekämpfen. Dahinter steht ein grundsätzlicher Konflikt, der die Gesellschaft der USA in zwei unversöhnliche Lager gespalten hat und der auch unsere Gesellschaft zu spalten droht: Es geht um die Deutungshoheit.
Wenn ein Kind hinfällt, sich dabei das Knie aufschlägt und dann weinen muss, ist das kein schwerer Unfall. Wird das Kind älter, merkt es gar nicht mehr, wenn es sich das Knie aufschlägt; das fällt erst den Eltern zuhause auf.
Wenn nun das Kind, das gerade hingefallen ist, weinend zu einem Erwachsenen gelaufen kommt, könnte der sagen: „Nun stell dich mal nicht so an, ist doch nichts Schlimmes passiert!” Der Erwachsene hätte damit recht - und das Kind nicht getröstet. Es hätte aber gelernt, dass man nicht weinen darf, wenn man sich weh tut. Der Erwachsene hat seine Sicht der Dinge, seine Deutungshoheit, durchgesetzt.
Ein einfühlsamer Erwachsener hätte vielleicht gesagt: „Du hast dich ja ganz schön erschreckt! Soll ich mal pusten?” Diese Antwort hätte den Schmerz des Kindes wahrgenommen und ernst genommen und ihm die Deutung seines Erlebnisses überlassen. Das Kind hätte gelernt, dass es sich seiner Tränen nicht zu schämen braucht.
Einmal entscheidet der Erwachsene für das Kind, wie der Fall des Kindes zu beurteilen ist, das andere Mal das Kind selbst. Die Entscheidung des Erwachsenen geht von dessen Sicht der Dinge aus: Der Sturz war nicht schlimm, es gibt keinen Grund zu weinen. Wenn man das Kind entscheiden lässt, nimmt man Rücksicht auf sein Empfinden, und das Kind lernt, seinen Gefühlen zu vertrauen.
Denn auch Gefühle sind ernst zu nehmende Kriterien, auch wenn man sie nicht objektiv von außen beurteilen kann. Das merkt man daran, welche Macht Gefühle über uns haben, und welches Unheil passiert, wenn man nicht fühlen will. Und tatsächlich können wir uns in einen anderen Menschen einfühlen, wenn wir uns auf ihn, auf sie einlassen und nicht schon im Vornherein unser Urteil über sie gefällt haben.
Das bedeutet nicht, wie Albert Mohler unterstellt, dass jemand, der einfühlsam ist, niemals Nein sagt. Wenn jemand sagt: „Ich schaffe das nicht”, würde Albert Mohler antworten: Das beurteile ich. Und wenn ich meine, du schaffst das, dann wirst du das auch schaffen. Aus empathischer Sicht würde man akzeptieren, was der andere sagt - dann würde man ihn aber auch nicht machen lassen, was er sich nicht zutraut.
Mit seinen Mitmenschen empathisch zu sein bedeutet nicht, sie tun zu lassen, was sie wollen. Ebenso bedeutet es nicht, keine Grenzen zu kennen oder die Grenzen für alle zu öffnen. Es bedeutet, den anderen zu respektieren, seine Sicht der Dinge und seine Gefühle ernst zu nehmen und sich nicht anzumaßen, man wüsste über den anderen besser Bescheid als er selbst.
Jesus hat das auf die griffige Formel gebracht: „Alles, was ihr wollt, dass die Leute euch tun sollen, das tut ihnen auch!” (Matthäus 7,12). So, wie Jesus seine Goldene Regel formuliert, zwingt sie geradezu zur Empathie. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, sie zu formulieren: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!” Das ist eingängiger, und es reimt sich auch noch.
Wo liegt der Unterschied zwischen beiden? Jesus setzt mit seiner Goldenen Regel beim Mitmenschen an: „… was die Leute euch tun sollen …”, die andere Formel bei mir selbst: „Was du nicht willst, das man dir tu …” Was ich nicht will - dafür ist keine Empathie nötig. Ich soll ja nur unterlassen, was ich selbst nicht erleiden möchte.
Die Goldene Regel setzt bei den Mitmenschen an - und auf deren Verhalten habe ich keinen Einfluss. Ich bin ihnen quasi ausgeliefert. Denn ob meine Mitmenschen das tun, was ich mir von ihnen wünsche, ist ihre Entscheidung - selbst, wenn ich dasselbe bereits für sie getan habe.
Es geht also bei der Frage der Deutungshoheit am Ende darum, ob der Stärkere, der Mächtigere über den Schwächeren entscheidet, was er tun, denken und fühlen soll. Oder ob man in gegenseitigem Respekt anerkennt, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, die in einem fairen Dialog miteinander ausgehandelt werden müssen.
Maria ist auf einfühlsame, empathische Engel gestoßen und auf einen empathischen Friedhofswärter, der sich als ihr geliebter Lehrer entpuppte. Sie hat sich entschieden, ihr Herz nicht wildfremden Engeln auszuschütten. Doch deren Einfühlsamkeit hat ihre Tränen getrocknet. Und die Tatsache, dass Jesus, ihr Rabbuni, lebt, hat ihre Trauer in Freude verwandelt.