Montag, 21. April 2025

Diaspora

Predigt am Ostermontag, 21. April 2025, über Jesaja 25,6-9

Der Herr Zebaoth bereitet allen Völkern auf jenem Berg ein fettes Mahl, ein Weingelage.
Das Fett ist markig und der Wein geläutert.
Und er lässt auf diesem Berg die Decke verschwinden,
die über allen Völkern ausgebreitet ist,
die Matte, die über alle Heiden geflochten war.
Er lässt den Tod verschwinden für immer.
Gott, der Herr, wischt die Tränen von allen Gesichtern.
Und die Erniedrigung seines Volkes beendet er auf der ganzen Erde,
denn der Herr hat es gesagt.
An diesem Tag sagt man: Sieh, da ist unser Gott.
Auf ihn hatten wir gehofft, und er hat uns geholfen.
Da ist unser Gott, er hat uns geholfen:
Lasst uns jauchzen und fröhlich sein über seine Hilfe.

Liebe Schwestern und Brüder,
ganz kleine Kinder verstecken sich,
indem sie sich die Decke über den Kopf ziehen:
Wenn sie nichts sehen können, denken sie,
sind sie auch nicht zu sehen.
Man nennt das Vogel-Strauß-Taktik,
weil der Strauß bei Gefahr angeblich den Kopf in den Sand steckt. 

Die Vogel-Strauß-Taktik beschreibt nicht nur
die noch nicht entwickelte Vorstellungskraft,
die fehlende Erfahrung, die kleine Kinder glauben lässt,
sie wären auf diese Weise nicht mehr zu sehen.
Sie ist auch eine mögliche
und nicht selten angewandte Handlungsoption -
deshalb hat sie auch diesen Namen bekommen,
obwohl man dem Vogel Strauß wahrscheinlich damit Unrecht tut.

So eine Decke kann also in doppelter Weise Erkenntnis verhindern:
Man versteckt sich darunter, damit man nicht gesehen wird.
Und man kann damit zugedeckt werden, damit man nichts sieht.
In Gangsterfilmen wird statt der Decke 
meistens ein Sack über den Kopf gezogen,
aber die Wirkung ist die gleiche.

Die Decke, die verhindert, dass man etwas sieht und dass man gesehen wird,
bezeichnet in der Bibel die Tatsache,
dass manche Gott kennen und viele nicht;
dass Gott manchen etwas bedeutet und vielen gleichgültig ist.

Die Decke symbolisiert dabei,
dass das Erkennen Gottes zwei Seiten hat:
Einmal ist es das aktive Verstecken unter der Decke.
Ein Desinteresse, das man ablegen muss, um Gott zu erkennen.
Auf der anderen Seite steht das passive Abgeschirmtwerden von Gott,
indem die Sicht auf ihn verdeckt wird,
und weil Gott sich nicht zu erkennen gibt.

Wenn dieses Bild, das in der Bibel mehrfach vorkommt, stimmt,
gehören zu einer Gottesbeziehung immer zwei:
Der Mensch, der die Beziehung zu Gott sucht.
Und Gott, der die Beziehung zulässt, indem er sich finden lässt.

Nun heißt es bei Jesaja, dass Gott die Decke wegnimmt,
die über den Völkern liegt.
Gott gibt sich den Völkern zu erkennen,
nicht nur seinem Volk Israel.
Das geschieht dadurch, dass sein Volk, in alle Winde zerstreut,
in der Diaspora unter den Völkern lebt.
Es lebt seinen Glauben, der es von den Mitmenschen absondert.
Es hat keine Nationalität, denn seine Heimat ist kein Land,
sondern ein Buch, das man überall hin mitnehmen kann: Die Bibel.

Beides, die Abgrenzung von den Mitmenschen durch das Befolgen der Gebote,
und die Vaterlandslosigkeit durch das tragbare Vaterland der Bibel,
setzte die Juden diversen Verdächtigungen aus.
Sie wurden erniedrigt, verfolgt, vertrieben, sogar ermordet.

Als Christen betrachten wir das Schicksal der Juden
aus der Distanz derer, die anders leben -
und haben doch zugleich großen Anteil an ihrem Schicksal
durch das, was die Kirche und was Christen
im Laufe der Jahrhunderte Juden angetan haben
an Erniedrigung, Ausgrenzung und Verfolgung.

Und die Distanz wird geringer.
Unsere Gesellschaft ist nicht mehr in der Mehrheit christlich,
sie hat allenfalls noch einen christlichen Anstrich.
Die Mehrheit der Bevölkerung hat mit dem Glauben nichts mehr am Hut. Das konnte man am Karfreitag und Karsamstag in Schwerin beobachten, als die Bäckereien und Cafés gefüllt waren
und Jugendliche bis spät in der Nacht durch die Straßen zogen,
statt wenigstens äußerlich den Karfreitag
und den Tag der Grabesruhe zu respektieren.

Auch die Distanz zum Staat ist den Christ:innen nicht fremd.
Zumindest die römisch-katholische Kirche
hat sich als Weltkirche, nie als nationale Kirche verstanden.
Sie ist nie ein so enges Bündnis mit dem Staat eingegangen
wie die evangelischen Landeskirchen.

Auch uns Protestanten bringt das Hören auf Gottes Wort
immer wieder in eine kritische Distanz zum Staat,
wenn es z.B. um Einwanderung oder Asylrecht geht,
in Fragen der Rüstung, des gesellschaftlichen Miteinanders
oder der gerechten Verteilung des Wohlstands.

Wir lernen gerade, was es bedeutet, Kirche in der Diaspora zu sein.
Darin können die Juden uns Vorbilder und Lehrmeister sein;
sie müssen ihren Glauben seit 2.000 Jahren so leben.
Nie hat ein Staat Rücksicht auf ihre Feiertage
oder auf den Sabbat genommen.
Nie hatten Rabbiner den Einfluss und das gesellschaftliche Ansehen,
das Bischöf:innen und Pastor:innen auch heute noch genießen.

Wir können vom Schicksal der Juden in der Diaspora auch lernen,
was passieren kann, wenn Christen eine Minderheit sind,
die nicht mehr durch gemeinsame Werte mit dem Staat verbunden ist.
Dann gelten auch unsere Traditionen als fremd und eigenartig,
wird uns unsere kritische Distanz zum Staat
nicht mehr als notwendiges Korrektiv,
sondern als Aufsässigkeit und Widerstand ausgelegt.

Einem solchen Schicksal könnte man zu entgehen versuchen,
indem man sich mit den jeweils Mächtigen gut stellt,
sich der jeweils herrschenden Meinung anpasst
und nicht auf seinen Prinzipien beharrt.
Doch dann wären die Christen kein Salz der Erde mehr, kein Licht der Welt.

Indem Juden in allen Teilen der Welt ihren Glauben lebten
und dadurch ihre Mitbürger in die Gemeinschaft mit Gott einluden,
hat Gott die Decke weggenommen,
die die Völker vor der Erkenntnis Gottes abschirmte.
Doch die Völker ziehen sich die Decke immer wieder über.
Menschen suchen immer wieder die selbst verschuldete Unmündigkeit
in dem Glauben, wenn sie die Wirklichkeit ignorieren, würde sie auch nicht existieren.

Auch die Auferstehung nimmt die Decke weg:
Auch dadurch ist Gott für alle Menschen sichtbar geworden.
Aber es gehören eben zwei zu einer Gottesbeziehung.
Gott hat die Decke weggenommen und lässt sich finden.
Mehr noch: Er lädt zu einem üppigen Gastmahl und Weingelage -
eine Einladung, die man schon wegen des reichlichen und köstlichen Essens
und der erlesenen Weine nicht ausschlägt.
Es liegt nun an den Geladenen,
ob sie sich eingeladen fühlen und die Einladung annehmen.

Wir haben die Einladung angenommen.
Wenn es alle anderen auch täten,
würde der Tod verschwinden und das Leid.
Es gäbe keine Erniedrigung von Menschen mehr,
die nicht der jeweils herrschenden Mehrheit,
der jeweils herrschenden Meinung entsprechen. 

Dann würden nicht mehr gekränkte Eitelkeit, Größenwahn,
Gier oder Skrupellosigkeit politischer Führer das Schicksal der Welt bestimmen,
müssten keine Kriege mehr geführt werden.
Es gäbe keine Diskriminierung,
weil man die eigene Kultur, die eigene Sprache,
die eigene Nation oder die Farbe der Haut nicht über alle anderen stellen
und die anderen herabsetzen müsste, um sich überlegen zu fühlen.

Das wird natürlich alles nie passieren.
Das weiß auch Jesaja: Er spricht von „diesem Tag”.
Damit meint er einen bestimmten Tag, aber der hat kein Datum.
Es ist ein Sankt-Nimmerleins-Tag,
ein Tag, der zu unseren Lebzeiten nicht eintreten wird.

Aber das stimmt so nicht.
Mit der Auferstehung Jesu hat Gott ein Datum gesetzt.
„Dieser Tag”, von dem Jesaja spricht, ist der Ostertag,
Von diesem Tag gilt, was Jesaja schreibt:
„Auf Gott haben wir gehofft, und er hat uns geholfen.”

Die Auferweckung Jesu hat den Tod besiegt.
Daran sehen wir, dass es möglich ist, den Tod verschwinden zu lassen.
Es ist möglich, dass Konflikte beigelegt werden, bevor sie eskalieren,
wenn beide Parteien wirklich an einer Lösung interessiert sind
und den Konflikt nicht zum Vorwand nehmen,
die andere Partei zu erpressen. 

Es ist möglich, dass einzelne Menschen, dass Politiker, Unternehmer, ganze Staaten
nicht nur an sich denken, nicht auf Kosten aller anderen groß werden wollen,
sondern das Wohl aller im Blick behalten.

Es ist möglich, weil wir mit der Auferstehung Jesu Leben gewonnen haben,
das der Tod nicht zerstören kann:
Wahres, sinnvolles, erfülltes, glückliches Leben - das ewige Leben.
Wer dieses Leben hat, braucht alles andere nur zu Not. 

Wir sind der Einladung Gottes gefolgt und haben das Leben gefunden.
Als Christinnen und Christen in der Diaspora wirken wir wie der Sauerteig,
von dem Jesus im Gleichnis sagt, dass er eine sehr große Menge Mehl durchsäuert.

Wir sind Salz der Erde und Licht der Welt.
Wir ziehen beharrlich an der Decke,
mit der unsere Mitmenschen sich vor der Wirklichkeit verschließen:
der Wahrheit über sich, und der Wahrheit über die Welt.

Wir ziehen beharrlich an der Decke, weil es Zeit ist, erwachsen zu werden
und die kindischen Spiele hinter sich zu lassen.
Wenn Gott will, reiben sich unsere Mitmenschen die Augen,
sehen sie sich um und finden Gott.
Dann wird es auch für sie Ostern.